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  • Grünliberale Partei der Schweiz (GLP)

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Jahresrückblick 2023: Parteien

Für die Parteien stand das Jahr 2023 überwiegend im Zeichen der National- und Ständeratswahlen sowie der Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats. Dies schlägt sich auch in der Medienpräsenz der Parteien nieder, die sich dem Spitzenwert aus dem letzten eidgenössischen Wahljahr 2019 annäherte und im Wahlmonat Oktober kulminierte (vgl. Abbildungen 1 und 2 der APS-Zeitungsanalyse).

Die SVP lancierte ihren Wahlkampf mit einem neuen Parteiprogramm, das sich unter anderem gegen «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» wandte. Im Wahlkampf rückte die Partei mit der Asyl- und Migrationspolitik indessen zunehmend zwei ihrer klassischen Kernthemen ins Zentrum. Nebst ihren inhaltlichen Forderungen bescherten der SVP auch ein Wahlkampfsong und ein aufwändiger Wahlkampfanlass viel Aufmerksamkeit. Bei den Nationalratswahlen erzielte die Partei schliesslich das drittbeste Resultat ihrer Geschichte, im Ständerat musste sie hingegen Verluste hinnehmen. Bei den Bundesratswahlen sprach sich die SVP für ein Festhalten an der bisherigen Sitzverteilung aus, erhob jedoch – letztlich ohne Erfolg – mit einem Zweierticket Anspruch auf die Nachfolge von Bundeskanzler Walter Thurnherr.
Auch in diesem Jahr zeigte sich die SVP aktiv bei der Nutzung der Volksrechte. So lancierte sie ihre «Nachhaltigkeitsinitiative» und brachte – unter Rückgriff auf unübliche Methoden – das Referendum gegen das Klimagesetz zustande, an der Urne konnte sie das Gesetz aber nicht zu Fall bringen. Verschiedentlich wurde in den Medien diskutiert, ob sich die SVP genügend gegen Rechtsextremismus abgrenze. Anlass dazu boten unter anderem die in zwei Kantonen eingegangenen Listenverbindungen mit Mass-voll und Verbindungen einzelner SVP-Exponentinnen und -Exponenten zur Jungen Tat.

Die SP konnte sowohl bei den Nationalrats- als auch bei den Ständeratswahlen zulegen. Eine Erklärung für den Wahlerfolg sah die Presse in der Themenlage, die der SP mit Inflation, steigenden Mieten und Krankenkassenprämien in die Hände gespielt habe. Die Partei hatte in ihrem Wahlkampf denn auch das Thema Kaufkraft an erste Stelle gesetzt. Im Rampenlicht stand die SP im Zusammenhang mit den Bundesratswahlen, bei denen sie den Sitz des zurücktretenden Alain Berset zu verteidigen hatte (vgl. Abbildung 1). Letztlich wählte die Bundesversammlung mit Beat Jans unter einigen Nebengeräuschen einen der beiden offiziellen SP-Kandidaten.
In der direktdemokratischen Arena musste die SP eine Niederlage hinnehmen, als die von ihr bekämpfte OECD-Mindeststeuer an der Urne deutlich angenommen wurde. Einen Erfolg konnte sie hingegen mit dem Zustandekommen ihrer Kita-Initiative verbuchen. Bereits vor den Wahlen hatte die SP ihr Fraktionspräsidium neu zu besetzen. Wie schon die Bundespartei wird nun auch die Fraktion von einem geschlechtergemischten Co-Präsidium geführt.

Für die FDP verliefen die National- und Ständeratswahlen enttäuschend. Im Wahlkampf hatten Diskussionen dazu, ob die grossflächigen Listenverbindungen mit der SVP für die FDP strategisch sinnvoll seien oder gemässigte Wählende abschreckten, ihre inhaltlichen Wahlkampfthemen teilweise in den Schatten gestellt. Die Vorwürfe, die FDP verkomme zur Juniorpartnerin der SVP, verstärkten sich noch, als sich die Freisinnigen vor den zweiten Ständeratswahlgängen in mehreren Kantonen zugunsten der SVP-Kandidaturen zurückzogen. Die Verluste bei den Parlamentswahlen befeuerten die Diskussion, ob die Doppelvertretung der FDP im Bundesrat noch gerechtfertigt sei; bei den Bundesratswahlen gerieten die beiden FDP-Sitze trotz eines Angriffs der Grünen aber nicht ernsthaft in Gefahr.

Die Mitte konnte bei den ersten nationalen Wahlen nach der Parteifusion den kumulierten Wählendenanteil von CVP und BDP leicht übertreffen, überholte bei den Nationalratssitzen die FDP und baute im Ständerat ihre Position als stärkste Partei aus. Parteipräsident Gerhard Pfister liess darauf verlauten, er sehe die Mitte, die sich im Wahlkampf als Anti-Polarisierungspartei profiliert hatte, künftig als Anführerin eines dritten Pols mit eigenständiger Themensetzung. Vor den Bundesratswahlen entschied sich die Mitte trotz ihres Wahlerfolgs dagegen, auf Kosten der FDP einen zweiten Bundesratssitz zu beanspruchen, da eine Abwahl wiederkandidierender Regierungsmitglieder vermieden werden solle. Bei einem FDP-Rücktritt werde eine Mitte-Kandidatur aber Thema werden. Mit unvorteilhaften Schlagzeilen war die Mitte im Frühling konfrontiert, als ehemalige Mitarbeitende der Partei Vorwürfe erhoben, im Generalsekretariat werde gemobbt.

Die Grünen konnten im Frühling ihr 40-jähriges Jubiläum begehen, hatten 2023 ansonsten aber nicht viel zu feiern. Bei den eidgenössischen Wahlen erlitten sie in beiden Räten deutliche Einbussen. Die Parteispitze betonte zwar, man habe das nach der «Klimawahl» 2019 zweitbeste Resultat der Parteigeschichte erzielt. Gleichwohl kam Parteipräsident Balthasar Glättli zum Schluss, er wolle als «Gesicht des Misserfolgs» sein Amt 2024 abgeben. Im Wahlkampf hatte eine millionenschwere Wahlkampfspende einer Gönnerin für einige Schlagzeilen gesorgt. Inhaltlich setzten die Grünen vor allem auf ihre Kernthemen Klima und Ökologie sowie Gleichstellung. Passend dazu beschlossen sie im August die Lancierung einer neuen Volksinitiative zum Ausbau der Solarenergie.
Ungeachtet ihrer geschwächten Position im Parlament wollten die Grünen im Dezember erstmals in den Bundesrat einziehen und griffen mit Nationalrat Gerhard Andrey die beiden Bundesratsmitglieder der FDP, nicht aber die SP-Sitze an. Nachdem Andrey bei seiner gemeinhin erwarteten Nichtwahl wohl nur eine Minderheit der SP-Stimmen erhalten hatte, konnte sich Glättli aber auch für künftige Angriffe auf SP-Bundesratssitze erwärmen. Unerfreulich war für die Grünen sodann eine Serie von Parteiaustritten von Kantonsparlamentarierinnen und -parlamentariern.

Nach Erfolgen bei mehreren kantonalen Parlamentswahlen brachten die Nationalratswahlen für die GLP einen herben Dämpfer. Ihre Nationalratsfraktion schrumpfte – teilweise wegen Proporzpech – um mehr als einen Drittel, worüber der geglückte Wiedereinzug in den Ständerat nicht hinwegtrösten konnte. Ihre zuvor gehegten Bundesratsambitionen begruben die Grünliberalen nach dem deutlichen Verpassen ihrer Wahlziele, mit Viktor Rossi konnten sie aber immerhin den Kampf ums Bundeskanzleramt für sich entscheiden. Als neue Fraktionspräsidentin bestimmte die GLP im Dezember Corina Gredig (glp, ZH).
Nach den Wahlen gab die künftige Ausrichtung der Partei Stoff für Spekulationen: Während Parteipräsident Jürg Grossen in Interviews gewisse Avancen nach Rechts zu machen schien, schloss sich die einzige GLP-Ständerätin der Ratsgruppe der Grünen an, der grösste Spender der Partei wiederum regte öffentlich eine Fusion mit der Mitte an.

Für die kleineren Parteien hielt das Jahr 2023 Unterschiedliches bereit. Dies gilt etwa für die EVP, die in Basel-Landschaft erstmals überhaupt den Sprung in eine Kantonsregierung schaffte, bei den eidgenössischen Wahlen aber den Nationalratssitz ihrer Parteipräsidentin einbüsste. Das Mouvement Citoyens Genevois wiederum verlor seinen Regierungssitz in Genf, konnte aber den Einzug in National- und Ständerat feiern. Nicht mehr im Bundesparlament vertreten sind die PdA und Ensemble à Gauche.

Erstmals kamen bei den eidgenössischen Wahlen die neuen Transparenzregeln des Bundes für die Politikfinanzierung zur Anwendung. Auswertungen der Daten in den Medien zeigten zwar, dass solche Analysen aus verschiedenen Gründen mit nennenswerten Unschärfen verbunden bleiben. Der Hauptbefund aber, dass FDP und SVP mit deutlichem Abstand vor SP und Mitte sowie Grünen und GLP über die grössten Wahlkampfbudgets verfügten, schien unbestritten.

Jahresrückblick 2023: Parteien
Dossier: Jahresrückblick 2023

Die GLP im Jahr 2023: Kurzüberblick

Im Zentrum des Jahres 2023 standen für die GLP wie auch für die anderen Parteien die National- und Ständeratswahlen. Für die Grünliberalen brachten diese einen herben Dämpfer. Nicht nur ging – nachdem sie sich ursprünglich eine deutliche Steigerung zum Ziel gesetzt hatten – ihr Wählendenanteil leicht zurück, sondern ihre Nationalratsfraktion schrumpfte – teilweise wegen Proporzpech – sogar um mehr als einen Drittel. Dass sie den Wiedereinzug in den Ständerat schafften, war für die Grünliberalen nur ein schwacher Trost. Als neue Fraktionspräsidentin bestimmten die Grünliberalen nach den Wahlen Corina Gredig (glp, ZH), die auf die in den Ständerat wechselnde Tiana Angelina Moser (glp, ZH) folgte.
Ihre zuvor gehegten Bundesratsambitionen begrub die GLP nach dem deutlichen Verpassen ihrer Wahlziele. Mit der Wahl ihres Kandidaten Viktor Rossi zum Bundeskanzler ist sie künftig dennoch im Bundesratszimmer vertreten. Die Grünliberalen sind damit die erste Partei der Schweizer Geschichte, die einen Bundeskanzler stellt, ohne ein Bundesratsmitglied zu haben.
Nach den Parlamentswahlen gab in den Medien die künftige Ausrichtung der GLP Stoff für Spekulationen: Während Parteipräsident Jürg Grossen in Interviews gewisse Avancen nach Rechts zu machen schien, schloss sich mit Tiana Angelina Moser die einzige GLP-Ständerätin der Ratsgruppe der Grünen an. Ein wichtiger Geldgeber der Partei wiederum sprach sich für eine Parteifusion mit der Mitte aus.
Erfreulicher als die eidgenössischen Wahlen waren für die GLP in der ersten Jahreshälfte eine Reihe kantonaler Parlamentswahlen verlaufen, auch wenn die Zugewinne bereits bescheidener als noch in den Vorjahren ausfielen: Im Tessin und in Appenzell Ausserrhoden gelang der GLP jeweils der erstmalige Einzug ins Kantonsparlament, im Baselbieter Landrat erreichte sie erstmals Fraktionsstärke. Und auch in Glarus konnte die GLP – hier nicht aufgrund eines Wahlerfolgs, sondern wegen Parteiübertritten – erstmals eine eigene Fraktion bilden.

Die GLP im Jahr 2023: Kurzüberblick
Dossier: Kurzüberblick über die Parteien im Jahr 2023

Im Jahr 2023 wählte die Stimmbevölkerung von sieben Kantonen (ZH, LU, BL, AR, AI, TI und GE) ihr Parlament. Als Gewinnerin der kantonalen Parlamentswahlen 2023 erwies sich die SVP, die ein Plus von 13 Sitzen verbuchen konnte. Diesen Zuwachs verdankte sie den guten Ergebnissen in den Kantonen Luzern (+ 5 Sitze), Genf (+ 4 Sitze), Tessin (+ 3 Sitze) und Zürich (+ 1 Sitz). Nachdem die Grünen im Jahr zuvor noch Sitze hatten dazugewinnen können, erlitten sie 2023 in den Kantonen Zürich (-3 Sitze), Luzern (-3 Sitze), Basel-Landschaft (-2 Sitze) und Tessin (-1 Sitz) Verluste. Weiterhin auf der grünen Welle ritten hingegen die Grünliberalen, die 2023 insgesamt 8 Sitze (BL: +3; AR: +2; TI: +2; ZH: +1) dazugewinnen konnten. In Appenzell Ausserrhoden schafften sie bei ihrem ersten Antreten auf Anhieb den Sprung in den Kantonsrat. Im Gegenzug erlitten die Freisinnigen 2023 geradezu eine Talfahrt – sie verloren 11 Sitze. Dieses Minus hatten sie vor allem dem Kanton Genf zuzuschreiben, wo sie im Vergleich zu den Wahlen 2018 6 Sitze verloren. Die übrigen 5 Sitze verloren sie in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden (-3 Sitze) und Tessin (-2 Sitze). Die FDP sah sich damit als grösste Verliererin bei den kantonalen Parlamentswahlen im Jahr 2023. Die SP, welche im Kanton Basel-Landschaft einen Verlust von zwei und im Tessin von einem Sitz hinnehmen musste, machte diese mit jeweils einem zusätzlichen Parlamentssitz in den Kantonen Zürich, Appenzell Ausserrhoden und Genf wieder wett. Bei der Mitte, welche in den sieben Kantonen nach der Fusion der CVP mit der BDP zum ersten Mal unter neuem Banner auftrat, liess sich das Fazit des vorherigen Jahres wiederholen, denn es zeigte sich in den Kantonen weiterhin ein geteiltes Bild. Während die Mitte in den Kantonen Zürich (+ 3 Sitze) und Basel-Landschaft (+ 2 Sitze) zulegen konnte, stagnierte sie in Appenzell Ausserrhoden und im Tessin (+ 0 Sitze) und musste in den Kantonen Genf (- 3 Sitze) und Luzern (- 2 Sitze) Sitzverluste verbuchen.

Beim Frauenanteil im Parlament zeigte sich ebenfalls ein geteiltes Bild, denn dieser konnte in vier von sieben Kantonen – namentlich in den Kantonen Luzern (+ 5.8 Prozentpunkte), Genf (+ 4.0 Prozentpunkte), Zürich (+ 3.3 Prozentpunkte) und Appenzell Ausserrhoden (+ 1.6 Prozentpunkte) – erhöht werden. Auf der anderen Seite reduzierte sich der Frauenanteil in den Kantonen Appenzell Innerrhoden (- 2 Prozentpunkte), Basel-Landschaft (- 2.2 Prozentpunkte) und im Tessin (- 2.2 Prozentpunkte). Der Anteil der Frauen über alle Schweizer Kantonsparlamente hinweg betrug Ende 2023 rund 32 Prozent und nahm im Vergleich zum Vorjahr leicht zu (Ende 2022: 29.7%). Bei der Wahlbeteiligung überschritt einzig der Kanton Tessin mit 56 Prozent die 50-Prozent-Marke. Die tiefste Mobilisierung wies 2023 der Kanton Appenzell Ausserrhoden mit 31.4 Prozent Wahlbeteiligung auf. Eine leichte Steigerung der Wahlbeteiligung im Vergleich zu den vorhergehenden Wahlen schaffte 2023 einzig der Kanton Zürich (2023: 34.9%; 2019: 33.5%). Die übrigen Kantone sahen sich mit einer niedrigeren Wahlbeteiligung im Vergleich zu den vorhergehenden Wahlen konfrontiert.

Neben ihren Legislativen wählten die sieben Kantone 2023 auch ihre Exekutiven neu. Anders als bei den Parlamentswahlen änderte sich an der Regierungszusammensetzung in den meisten Kantonen allerdings relativ wenig. Parteipolitische Verschiebungen erfolgten lediglich in drei von sieben Kantonen. Im Kanton Luzern konnte die SP mit der Wahl von Ylfete Fanaj (LU, sp) den Sitz des zurücktretenden parteilosen Marcel Schwerzmann (LU, parteilos) übernehmen. Im Kanton Basel-Landschaft musste die SVP nach dem Rücktritt von Thomas Weber (BL, svp) ihren Regierungsratssitz an Thomi Jourdan (BL, evp) und die EVP abgeben, womit letztere ihren ersten kantonalen Regierungssitz erobern konnte. Eine Sitzverschiebung auf Kosten der Grünen gab es 2023 im Kanton Genf, wo sich die FDP mit der Wahl von Nathalie Fontanet (GE, fdp) und der Nichtwiederwahl von Fabienne Fischer (GE, gp) einen Platz in der kantonalen Regierung sichern konnte. Ohne parteipolitischen Neuerungen gingen die Regierungswahlen in den Kantonen Zürich, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden und Tessin aus.

Der Frauenanteil in den kantonalen Regierungen wurde in vier von sieben Kantonen erhöht. Die grösste Veränderung findet sich im Kanton Luzern, der seit 2015 rein männlich regiert wurde: Zwei der drei vakanten Sitze wurden mit Frauen besetzt. Auch in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Tessin und Genf führten die Wahlen zu einer Erhöhung des Frauenanteils in der Regierung, nicht aber in den Kantonen Zürich, Basel-Landschaft und Appenzell Innerrhoden; dort blieb der Frauenanteil konstant. Mit einem Total von 48 Frauen in den kantonalen Regierungen der Schweiz betrug der Frauenanteil 2023 31.2 Prozent, womit dieser im Vergleich zum Vorjahr um 2.6 Prozentpunkte gesteigert werden konnte.

Kantonale Ersatzwahlen fielen mit dem Rücktritt von Laurent Kurth (NE, sp) schliesslich im Kanton Neuenburg an, wo die SP ihren Sitz mit der Wahl von Frédéric Mairy (NE, sp) jedoch erfolgreich zu verteidigen wusste.

In den zehn grössten Schweizer Städten fanden 2023 keine kommunalen Wahlen statt.

Übersicht über die kantonalen und kommunalen Wahlen 2023
Dossier: Übersicht über die Wahlen auf Kantons- und Gemeindeebene
Dossier: Kantonale Parlamentswahlen 2023
Dossier: Kantonale Regierungsratswahlen 2023

Das Präsidium der Neuenburger GLP wird künftig wieder von einer einzelnen Person ausgeübt. Wie die Kantonalpartei im März 2023 bekanntgab, zog sich die bisherige Co-Präsidentin Sarah Pearson Perret aus Zeitgründen von der Parteileitung zurück. Der bisherige Co-Vorsitzende Maxime Auchlin, der auch Grossrats-Suppleant ist, wurde damit alleiniger Präsident.
Einen ähnlichen Schritt machte im Herbst die GLP des Kantons Zürich, allerdings nur vorübergehend: Corina Gredig, die die Kantonalpartei seit 2018 gemeinsam mit Nicola Forster präsidiert hatte, gab nach den eidgenössischen Wahlen ihren Rücktritt von diesem Amt per Januar 2024 bekannt. Sie wolle sich in der neuen Legislatur voll auf ihre Aufgaben im Bundeshaus konzentrieren. Kurz darauf wurde Gredig zur neuen Chefin der GLP-Bundeshausfraktion gewählt. Die Zürcher Kantonalpartei plante ihr Präsidium weiterhin mit einer Tandemlösung zu besetzen; bis zu deren Wahl 2024 blieb Forster alleiniger Präsident.

Kantonale Parteipräsidien bei der GLP 2023
Dossier: Spitzenämter in Kantonalparteien der GLP
Dossier: Spitzenämter in Neuenburger Kantonalparteien
Dossier: Spitzenämter in Zürcher Kantonalparteien

Im November 2023 beschloss der Bundesrat, die Steuerbefreiung auf Elektrofahrzeuge per 1. Januar 2024 aufzuheben. Diese Änderung der Automobilverordnung war Teil des im Januar 2023 beschlossenen Bereinigungskonzepts für den Staatshaushalt. Elektrofahrzeuge waren seit der Einführung der Automobilsteuer im Jahr 1997 von der Steuer ausgenommen. Dadurch sollten marktwirtschaftliche Anreize für die Entwicklung und Förderung der Elektromobilität gesetzt werden. In den letzten Jahren wurde nun eine grosse Zunahme an Elektrofahrzeugen verzeichnet. Laut dem Bundesrat wurden im Jahr 2022 insgesamt über 45'000 Elektrofahrzeuge importiert. Es wird erwartet, dass sich dieser Marktanteil von rund 25 Prozent in den folgenden Jahren weiter vergrössern wird. Diese Zunahme der Fahrzeuge mit Alternativantrieb verursache jedoch auch einen bedeutsamen Steuerausfall. Für das Jahr 2022 wurde dieser auf CHF 78 Mio. geschätzt. Der Bundesrat war der Ansicht, dass die Elektromobilität keiner gesonderter Förderung mehr bedürfe und die Steuerbefreiung aufgehoben werden könne. Ab dem 1. Januar 2024 sollte für Elektrofahrzeuge der reguläre Steuersatz von 4 Prozent auf den Importpreis gelten. Der Bundesrat schätze die so entstehenden Mehreinnahmen auf bis zu CHF 150 Mio. pro Jahr. Die neu generierten Steuereinnahmen sollten dabei den allgemeinen Bundeshaushalt entlasten und in den NAF eingelegt werden.

In der Vernehmlassung zur geplanten Änderung der Automobilsteuer fielen die Stimmen grossmehrheitlich positiv aus. Unterstützung fand das bundesrätliche Vorhaben beispielsweise bei 18 Kantonen sowie bei den Grünen, der SP, der FDP und der Mitte. Ein Drittel der Vernehmlassungsteilnehmenden unterstützte den Entwurf zwar im Grunde, forderte jedoch, dass die Aufhebung der Steuer zu einem späteren Zeitpunkt oder schrittweise geschehen solle (u.a. GLP, sgv, economiesuisse, TCS, AGVS, strasseschweiz und die acht restlichen Kantone). Befürchtet wurde dabei unter anderem, dass der Anteil der Elektrofahrzeuge zum gegebenen Zeitpunkt noch zu gering sei, um den steuerlichen Anreiz sofort und vollständig aufzuheben. Darüber hinaus sahen diese Kritikerinnen und Kritiker mit der vorgeschlagenen Lösung die Planbarkeit für die Automobilbranche gefährdet. Nur einzelne Vernehmlassungsteilnehmende lehnten die mit dem Entwurf geforderte Aufhebung der Steuerbefreiung ab (SVP, Travail.suisse, AMAG, auto-schweiz. Swiss eMobility, suisse.ing, VFAS), wobei die Gründe dafür auseinandergingen. Während einige ebenfalls die sofortige Aufhebung der Anreizinstrumente und die damit einhergehende mangelnde Planbarkeit für die Automobilbranche bemängelten, lehnte etwa die SVP den Entwurf ab, weil sie die Gleichbehandlung von Fahrzeugen mit und ohne Elektromotor durch eine generelle Abschaffung der Automobilsteuer erreichen wollte.

Unter Verweis auf die mehrheitlich positiven Rückmeldungen in der Vernehmlassung hielt der Bundesrat an seinem Vorschlag fest und beschloss die Aufhebung der Steuerbefreiung per 1. Januar 2024, ohne weitere Anpassungen an seinem Vernehmlassungsentwurf vorzunehmen.

Änderung der Automobilsteuerverordnung

Sowohl in den Parteien als auch in den Medien gaben die Listenverbindungen für die Nationalratswahlen 2023 viel zu reden. Aus wahlarithmetischer Sicht sind diese ein Mittel, um Verzerrungen durch die meist kleinen Nationalratswahlkreise entgegenzuwirken: Zwar gilt bei den Nationalratswahlen in allen 20 Kantonen mit mehr als zwei Mandaten das Proporzsystem, doch die meist kleine Wahlkreisgrösse – nur in 6 Kantonen sind mehr als 10 Mandate zu vergeben – bedeutet, dass kleinere Parteien in den meisten Kantonen praktisch keine Aussichten auf einen Sitz haben, wenn sie alleine antreten; ihre Stimmen gehen in der Konsequenz verloren. Mit Listenverbindungen können sie teilweise Abhilfe schaffen, weil dadurch für die Sitzverteilung die Stimmen aller Partnerlisten zusammengezählt werden. Doch auch für grössere Parteien sind Listenverbindungen angesichts der kleinen Wahlkreise beziehungsweise der vielen resultierenden Reststimmen ein «probate[s] Mittel, um für die eigene Partei Restmandate zu holen oder doch mindestens dafür zu sorgen, dass sie einer nahestehenden Partei zugutekommen», wie die NZZ festhielt. Rein arithmetisch sind somit breite Verbindungen aus mehreren Parteien in der Regel vorteilhaft, Alleingänge hingegen nachteilig. Eine Auswertung des Tages-Anzeigers kam zum Schluss, dass die Listenverbindungen 2019 für die Sitzverteilung eine erhebliche Rolle spielten: Die GLP habe dank geschickten Listenverbindungen landesweit fünf zusätzliche Sitze geholt, während die vielerorts isolierte SVP insgesamt sieben Sitze mehr erhalten hätte, wenn auch alle anderen Parteien überall alleine angetreten wären.

Entsprechend verbreitet war das Instrument der Listenverbindungen auch bei den Nationalratswahlen 2023. Eine Übersicht des Bundesamts für Statistik zeigt, welche Parteien ihre Listen am häufigsten miteinander verbanden. Zu beachten ist dabei, dass nur in jenen 20 Kantonen, denen mehr als ein Nationalratssitz zusteht, Listenverbindungen überhaupt in Frage kamen. In diesen wurden insgesamt 80 parteiübergreifende Listenverbindungen geschlossen, 2019 waren es 81 gewesen. Unter Ausklammerung von Verbindungen mit (Unter-)Listen der eigenen Partei ergeben sich für die acht wählendenstärksten Parteien 2023 folgende Allianzmuster: SP und Grüne verbanden ihre Listen ohne Ausnahme in all diesen 20 Kantonen. In 5 Kantonen nahmen diese beiden Parteien auch die GLP an Bord, in 4 Kantonen die PdA, in 3 Kantonen SolidaritéS und in je einem Kanton die EVP, die CSP, die AL oder andere Parteien. – Häufigste Listenverbindungspartnerin der GLP war derweil die Mitte (in 10 Kantonen), gefolgt von EVP (8), SP und Grünen (je 5) sowie FDP und anderen (je 1). – Die EVP verband ihre Listen am meisten mit der Mitte (in 13 Kantonen), gefolgt von der GLP (8), der FDP (2) sowie der SP, Grünen und anderen (je 1). – Für die Mitte war ihrerseits die EVP die häufigste Partnerin (in 13 Kantonen), gefolgt von der GLP (10), der FDP (5) sowie der SVP, dem MCG und anderen (je 1). – Die FDP spannte am häufigsten mit der SVP zusammen (in 9 Kantonen), vor der Mitte (5), der EVP und der EDU (je 2) sowie der GLP und dem MCG (je 1). – Für die SVP war umgekehrt ebenfalls die FDP die häufigste Listenverbindungspartnerin (in 9 Kantonen), gefolgt von der EDU (7), Mass-voll (2), der Mitte, der Lega, dem MCG und anderen (je 1). – Die EDU schliesslich setzte am häufigsten auf eine Allianz mit der SVP (in 7 Kantonen), vor der FDP und den SD (je 2) sowie anderen Parteien (1).

Für die heftigsten Diskussionen und Kontroversen in den Medien sowie innerhalb der betroffenen Parteien sorgten dabei nicht die am häufigsten vorkommenden Allianzen, sondern jene zwischen FDP und SVP sowie jene zwischen SVP und Mass-voll. Diese Kontroversen sind Ausdruck davon, dass Listenverbindungen für eine Partei auch einen Preis haben können: Eine Partei signalisiert damit, welche andere Partei(en) sie als nahestehend betrachtet und im Zweifelsfall mit ihren Reststimmen begünstigen will. Dies kann eine eigenständige Profilierung erschweren und Teile der eigenen potenziellen Wählerschaft abschrecken, wenn diese mit den Listenverbindungspartnern so wenig anfangen können, dass sie diesen keinesfalls ihre Stimme zugutekommen lassen möchten. In genau diesem Spannungsfeld bewegten sich denn auch die Diskussionen im Wahlkampf 2023: Während jeweils von der einen Seite die entsprechenden Partnerschaften als Ausverkauf der eigenen politischen Werte kritisiert und die inhaltliche Kompatibilität der Partnerparteien in Zweifel gezogen wurden, verteidigte die andere Seite sie jeweils als rein arithmetische Zweckbündnisse, die bloss der Stimmenaggregation dienten und nicht inhaltlich interpretiert werden sollten.

Für die Kooperationen zwischen FDP und SVP gab SVP-Präsident Marco Chiesa an einer Delegiertenversammlung im Januar 2023 das Ziel aus, «flächendeckende Listenverbindungen» seiner Kantonalparteien mit den Freisinnigen anzustreben; es gehe darum, einen Vormarsch der Linken zu verhindern. Noch bis 2007 waren Allianzen zwischen FDP und SVP bei den Nationalratswahlen auch recht verbreitet gewesen, zwischen 2011 und 2019 war es aber nie in mehr als drei Kantonen dazu gekommen – gemäss NZZ nicht nur weil von einer Listenverbindung grundsätzlich häufiger der grössere Partner – also die SVP – profitiert, sondern auch weil die meisten freisinnigen Kantonalparteien ihr eigenständiges Profil schärfen und sich von der SVP abgrenzen wollten. FDP-Präsident Thierry Burkart verwies denn auch diesmal auf die Autonomie der Kantonalparteien in dieser Frage. Dabei sagte er gegenüber der NZZ, für ihn seien «Listenverbindungen vor allem unter dem Gesichtspunkt der Wahlarithmetik [zu] beurteilen und weniger mit Blick auf die inhaltliche Zusammenarbeit». In den Kantonen zeigte sich jedoch, dass es für viele Freisinnige um mehr ging als um nüchterne Arithmetik – die möglichen Liaisons mit der SVP waren gemäss einem NZZ-Bericht vom Juli innerhalb des Freisinns «überall» umstritten. Exemplarisch dafür war die Zürcher FDP, deren Delegierte sich nach einer intensiven Auseinandersetzung letztlich hauchdünn, mit 82 zu 81 Stimmen, erstmals seit 2007 wieder für eine Listenverbindung mit der SVP entschieden (während der SVP-Kantonalvorstand einstimmig Ja sagte). Auf der einen Seite warb der FDP-Kantonalparteipräsident für eine solche «Zweckgemeinschaft», auch wenn es für eine Zusammenarbeit «nicht hilfreich» sei, dass die SVP im Zusammenhang mit dem Credit-Suisse-Niedergang von FDP-Filz spreche und «dumme und haltlose Vorwürfe» gegen die FDP erhebe, wie er im Tages-Anzeiger sagte. Verzichte man auf eine Allianz, profitierten davon jedoch die Linken. Auf der anderen Seite wandten Gegnerinnen und Gegner laut NZZ ein, die SVP habe sich zuletzt «radikalisiert». Wenn die SVP einen rassistischen Wahlkampf gegen Asylsuchende führe, muslimische Schweizer Soldaten verunglimpfe oder Bundesratsmitglieder als «Saboteure» bezeichne, werde «ein Teil des Schmutzes» auch auf die FDP als Listenverbindungspartnerin abfallen. Die Wählenden würden die arithmetischen Überlegungen hinter einer Listenverbindung nicht verstehen. Das Risiko sei gross, Stimmen und die politische Glaubwürdigkeit zu verlieren sowie einen Imageschaden davonzutragen. Zudem erinnerten sie an frühere Angriffe und Beleidigungen der SVP auf FDP-Exponentinnen und -Exponenten. Mit ähnlichen Argumenten entschied sich etwa in St. Gallen oder Solothurn eine Mehrheit der FDP gegen eine Wahlallianz mit der SVP. Besonders war die Ausgangslage in Basel-Stadt, wo eine Listenverbindung nicht an der FDP scheiterte, sondern an der LDP – welche zwar ebenfalls Mitglied der FDP.Liberalen Schweiz ist, auf kantonaler Ebene aber unabhängig von der Basler FDP politisiert. Die LDP argumentierte gemäss Basler Zeitung, bei lokalen Themen könne man mit der SVP zwar durchaus zusammenarbeiten, aber auf nationaler Ebene vertrete die Volkspartei einen Stil und Werte, die «man als liberale Partei nicht teilen kann» – etwa mit dem Kampf für ein Verhüllungsverbot oder gegen die Personenfreizügigkeit und Immigration. Weil die LDP als Listenverbindungspartnerin der FDP in Basel gesetzt war, kam nach ihrem Veto auch für letztere eine Allianz mit der SVP nicht mehr in Frage. Derweil kam es nebst Zürich unter anderem auch in Bern, Aargau und der Waadt zu FDP-SVP-Listenverbindungen.
Die von den parteiinternen Kritikerinnen und Kritikern vorausgesagten Vorwürfe gegenüber der Allianzpolitik der FDP liessen nicht auf sich warten und wurden medial auch weit über die neun betroffenen Kantone hinaus aufgenommen (ähnlich gelagerte Kritik, dass sich die FDP zu sehr an die SVP anlehne und damit ihr moderates Profil verliere, wurde im Übrigen auch im Zusammenhang mit den Ständeratswahlen laut): Wer die FDP wähle, wähle nun die SVP mit, warnten Linke und Grünliberale. Mit Blick auf den Kanton Aargau schrieb auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister, dass jede Stimme für die FDP somit eine Stimme für Andreas Glarner (svp, AG) sei. Und ein umstrittener Wahlkampf-Sticker der Kampagnenorganisation Campax etikettierte nebst der SVP auch die FDP als «Nazis». Doch auch die traditionell FDP-nahe NZZ konstatierte im Sommer, «die Nähe zur SVP» in der öffentlichen Wahrnehmung werde für die FDP «zunehmend zum Problem». FDP-Präsident Burkart verteidigte sich im Tages-Anzeiger und der Aargauer Zeitung, man sei aufgrund des Wahlsystems praktisch gezwungen, trotz inhaltlicher Unterschiede Verbindungen einzugehen. In mehreren Kantonen habe die FDP Verbindungen mit der Mitte eingehen wollen, habe von dieser jedoch einen Korb bekommen. Burkart vermutete dahinter ein Manöver von Mitte-Präsident Pfister: Indem er die FDP faktisch zu Kooperationen mit der SVP zwinge, könne sich stattdessen die Mitte als «die vernünftige Kraft der Mitte» positionieren. Dieses «Spiel» von Pfister scheine «aufgrund der linken Polemik und dank Mithilfe der Medien» aufzugehen. Im Übrigen sei die Kritik insbesondere von Seiten der GLP «scheinheilig»: Dass diese in mehreren Kantonen mit SP und Grünen zusammenspanne, sei ebenso kritikwürdig wie die Verbindungen von FDP und SVP; man könne Stimmen für die GLP mit gleichem Recht auch als «Stimmen für Juso und Klimakleber» bezeichnen, sagte Burkart.

Ganz ähnliche Argumentationsmuster waren auch in der SVP zu beobachten, allerdings in Bezug auf die Listenverbindungen mit Mass-voll. Zwar räumte die SVP überall dort, wo die FDP wollte, dieser Partnerschaft den Vorrang ein und hielt sich an die FDP-Bedingung, dass es für Mass-voll keinen Platz in den entsprechenden Verbindungen geben dürfe (wobei Mass-voll seinerseits verlauten liess, dass man «niemals» gemeinsam mit der FDP in die Wahlen gehen würde, weil diese eine «menschenverachtende Corona-Politik» unterstützt habe). In mehreren Kantonen, in denen sich die FDP gegen eine Listenverbindung mit der SVP entschieden hatte, prüfte die SVP in der Folge aber ein Zusammengehen mit den Covid-Massnahmengegnerinnen und -gegnern. In Solothurn und Luzern kamen entsprechende Listenverbindungen schliesslich zustande – wobei die jeweiligen SVP-Spitzen in der Presse betonten, es handle sich um reine «Zweckgemeinschaften». Es gehe schlicht darum, zu verhindern, dass die Stimmen der am rechten Rand zu verortenden Mass-voll-Bewegung einfach verloren gingen. Ganz ähnlich wie bei der FDP, wenn auch in geringerem Umfang, kursierten aber auch hier SVP-interne Stimmen in der Presse, die befürchteten, der Schuss könne selbst bei einer arithmetischen Betrachtungsweise nach hinten losgehen, weil eigene Wählende abgeschreckt werden. Auch wisse man «gar nicht so recht, auf wen man sich da jetzt einlässt. Diese Bewegung ist einigermassen unberechenbar, ihre Mitglieder sind in unserem Kanton ein unbeschriebenes Blatt», wie es ein anonymes Mitglied der Solothurner SVP-Parteileitung in der Solothurner Zeitung ausdrückte. Trotz solcher Bedenken und gemäss Solothurner Zeitung «lautstarker» interner Kritik entschied sich die Parteileitung der Solothurner SVP mit 17 zu 4 Stimmen letztlich aber deutlich zugunsten der Allianz. Laut Basler Zeitung jagte dieser Entscheid «Schockwellen durchs ganze Land». Die SVP-Präsidenten von Basel-Stadt und Basel-Landschaft äusserten in der Presse die Sorge, die Solothurner Allianz könnte auch in ihren Kantonen moderatere SVP-Wählende verschrecken. Die Juso wiederum forderte von der SVP in einer Medienmitteilung «mehr Verantwortung im Umgang mit demokratischen Werten»; Mass-voll könne nicht zum bürgerlichen Lager gezählt werden, sondern hege «rechtsextremes und antidemokratisches Gedankengut», wie sich etwa mit der Teilnahme von «Mass-voll»-Chef Nicolas Rimoldi an einer «Remigrations»-Demonstration der Identitären Bewegung in Wien gezeigt habe. Der Wahlkampfleiter der SVP Schweiz, Marcel Dettling (svp, SZ), erachtete die Allianz indessen als sinnvoll, um keine Stimmen an Mass-voll zu verlieren. In Luzern wiederum sprach die SVP-Kantonalpräsidentin selbst in der Presse von einem «Abwägen», ob eine Verbindung mit Mass-voll der SVP mehr schade als nütze. Letztlich sei man zum Schluss gekommen, aus arithmetischer Sicht sei in Luzern eine Listenverbindung nötig, damit die SVP ihr Ziel eines Sitzgewinns erreichen könne. Zudem argumentierte die Präsidentin, man wolle damit jene, «die sich in der Corona-Zeit von den etablierten Parteien nicht mehr verstanden gefühlt haben», abholen. Um eine «Liebesheirat» handle es sich bei der Verbindung aber nicht. In Schwyz wiederum schloss die SVP eine Verbindung mit Mass-voll dezidiert aus, ging jedoch eine Allianz mit der «Freien Liste» von Josef Ender ein, der sich ebenfalls im Rahmen der Bewegung gegen die Covid-19-Massnahmen einen Namen gemacht hatte. Hier war es Ender, der sich veranlasst sah in der Presse zu betonen, die Kooperation mit der SVP sei eine rein wahltaktische, punktuelle Angelegenheit ohne inhaltliches Gewicht, die ihm vom Wahlsystem quasi aufgezwungen werde. Die Äusserungen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass Ender seine Unabhängigkeit und Distanz zu allen Parteien zu betonen pflegte, um Wählende aus «möglichst allen Lagern» anzusprechen, die ihre Stimme keiner etablierten Partei mehr geben wollten. Gemäss einer NZZ-Analyse nach den Wahlen kamen die Ender-Stimmen letztlich aber tatsächlich der SVP zugute, denn diese habe ihren zweiten Schwyzer Nationalratssitz dank der Verbindung mit der Freien Liste verteidigen können.

Überregionale mediale Aufmerksamkeit, wenn auch in deutlich geringerem Ausmass, erhielten auch einige weitere Allianzen. So gaben die nationalen Zentralen von Mitte, GLP und EVP im Frühling bekannt, grundsätzlich überall Listenverbindungen zwischen diesen drei Parteien anzustreben. Tatsächlich kam eine solche Zentrumsallianz in acht Kantonen zustande. Zu den Gegenbeispielen gehörten jene fünf Kantone, in denen sich die GLP stattdessen zu einer sogenannten Klimaallianz mit Grünen und SP verband. In Genf wiederum bildete sich eine ausserordentlich breite Verbindung, die das bürgerliche Lager von der Mitte über die FDP und die MCG bis zur SVP umfasste. Eine derart breite Kooperation hatten die Genfer Bürgerlichen letztmals 1987 zustande gebracht, wie es in der Tribune de Genève hiess. Sie erstreckte sich zudem auch auf die Ständeratswahlen, für die sich die vier Partnerparteien verpflichteten, nach dem ersten Wahlgang geschlossen die zwei stimmenstärksten Kandidaturen aus ihren Reihen zu unterstützen – eine Strategie, die die Wahl von MCG-Kandidat Mauro Poggia auf Kosten von Lisa Mazzone (GE, grüne) erst ermöglicht haben dürfte.

Insgesamt waren die unmittelbaren rechnerischen Auswirkungen der Listenverbindungen auf die Nationalratswahlergebnisse 2023 geringer als noch vier Jahre davor. Zu diesem Schluss kam jedenfalls eine Analyse des Tages-Anzeigers, die freilich die Annahme traf, dass in einem System ohne Listenverbindungen alle Wählenden ihre Stimmen an dieselben Parteien verteilt hätten, wie sie es im existierenden System taten; sie blendete also aus, dass potenzielle Wählende durch für sie unwählbare Listenverbindungspartner davon abgehalten werden können, ihre eigentlich bevorzugte Partei zu wählen. Unter besagter Annahme wären ohne jegliche Listenverbindungen insgesamt 12 Sitze in 11 Kantonen anders vergeben worden; unter dem Strich und über alle Kantone hinweg hätten die SVP und die Mitte in diesem Szenario je zwei Sitze mehr verbuchen können als in der Realität, die FDP einen. Weniger Mandate hätte es ohne Listenverbindungen für die Grünen (2), die SP, die GLP und die EDU (je 1) gegeben. Ausserdem ergab die Simulationsrechnung des Tages-Anzeigers, dass ein flächendeckendes Zusammenspannen von FDP und SVP in allen Kantonen quasi ein Nullsummenspiel gewesen wäre: Die SVP hätte dadurch schweizweit einen Sitz mehr gewinnen können, die FDP hingegen einen weniger.

Die mitunter heftige interne und externe Kritik, die insbesondere FDP und SVP an ihrer Allianzpolitik gewärtigen mussten, aber auch Bedenken wegen der schweren Überschaubarkeit der zahlreichen Listenverbindungen für die Wählenden, führten vor und nach den Wahlen zu Vorschlägen und parlamentarischen Vorstössen für eine Reform der institutionellen Spielregeln. Auf der einen Seite forderten FDP und SVP, Listenverbindungen künftig schlicht zu verbieten. Die beiden Parteien dürften – wie es auch die Simulationsrechnung des Tages-Anzeigers nahelegt – von einem solchen Schritt profitieren, da er die grösseren Parteien bevorteilen würde. Auf der anderen Seite propagierten insbesondere die GLP und die EVP einen Wechsel zum sogenannten Doppelten Pukelsheim (Doppelproporz): Dieses System, das neun Kantone für die kantonalen Wahlen kennen, macht Listenverbindungen obsolet, weil es das Problem der «verlorenen» Stimmen in kleinen Wahlkreisen anderweitig löst. Es würde gegenüber heute insbesondere die Aussichten kleinerer Parteien – wie der GLP und der EVP selbst – verbessern. Die NZZ schätzte die Mehrheitsfähigkeit beider Reformoptionen zurückhaltend ein; grössere Erfolgsaussichten schrieb sie aber dem Vorschlag für den Doppelten Pukelsheim zu. Versagten SVP und FDP diesem wie schon in der Vergangenheit ihre Unterstützung, würden diese beiden Parteien «in vier Jahren wieder schimpfen, wie mühsam das heutige System doch sei», prognostizierte die NZZ.

Listenverbindungen für die Nationalratswahlen 2023

Bei den Nationalratswahlen 2023 im Kanton Bern versuchten 776 Kandidierende einen der 24 Sitze, die der Kanton Bern im Nationalrat zugute hatte, zu ergattern. Damit wurde nach 2019 (651 Kandidierende) erneut ein neuer Rekord aufgestellt. Auch der Frauenanteil lag mit 42.3 Prozent (328 Frauen) etwas höher als im Vorjahr (2019: 42.1%; 274 Frauen). Der ansteigende Trend der letzten Jahre setzte sich auch bei der Anzahl Listen fort: Insgesamt wurden 39 Listen eingereicht (2019: 34 Listen; 2015: 26 Listen). Dieser Umstand wurde in den Medien insbesondere auf GLP (9 Listen), Mitte (6 Listen) und EVP (4 Listen) zurückgeführt, welche ihre Listenanzahl stark ausgebaut hatten. Diese Wahlkampftaktik wurde derweil medial kritisiert, da sie zur Überforderung der Wählenden führe und die Mandatsverteilung dadurch nicht wirklich dem Volkswillen entspreche, wie etwa der Bund schrieb.

Bei den Nationalratswahlen 2019 waren sowohl national als auch im Kanton Bern insbesondere die Grünen (BE: +5.1 Prozentpunkte, +2 Sitze) und die GLP (BE: +3.7 Prozentpunkte, +1 Sitz) als grosse Siegerinnen hervorgegangen. Im Vorfeld zu den Wahlen 2023 erwarteten die Medien, dass die Grünen einen der vier Sitze wieder verlieren könnten. Einen Grund dafür sahen sie darin, dass Regula Rytz (gp, BE), welche jeweils stark mobilisiert habe, nicht mehr kandidierte. Insbesondere die Wiederwahl von Nathalie Imboden (gp, BE), welche 2022 für Rytz nachgerutscht war, sowie von Christine Badertscher (gp, BE) erachteten die Medien als ungewiss. Letztere war bei einigen Anhängerinnen und Anhängern der Grünen in Ungnade gefallen, als sie sich gegen die Trinkwasserinitiative ausgesprochen hatte, wie der Blick erinnerte. Die Grünen setzten wie üblich auf eine Listenverbindung mit der SP.
Die SP trat erneut mit einer Frauen- und Männerliste an, welche dieses Jahr mit dem Begriff «Queer» ergänzt worden war. 2019 waren mit Adrian Wüthrich (sp, BE) und Corrado Pardini (sp, BE) gleich zwei SP-Männer abgewählt worden. Nun sprachen die Medien Adrian Wüthrich, Präsident von TravailSuisse, gute Chancen zu, seinen ehemaligen Sitz zurückzuerobern, und auch Ueli Schmezer (sp, BE), dem ehemaligen «Mister Kassensturz» (Der Bund), wurde ein Sitzgewinn zugetraut. Sowohl Schmezers Bekanntheit als auch die Bundesratskandidatur von Matthias Aebischer (sp, BE), dessen Wiederwahl in den Nationalrat als ungefährdet galt, könnten der SP-Männerliste zu mehr Stimmen verhelfen, wurde spekuliert. Bei der Frauenliste drehte sich die Diskussion insbesondere um eine mögliche Nachfolgerin von Flavia Wasserfallen (sp, BE), da diese neben dem Nationalrat auch für den Ständerat kandidierte und dort als Favoritin gehandelt wurde. Im Falle einer Wahl Wasserfallens in den Ständerat könnte ihr Sitz insbesondere von Ursula Zybach (sp, BE) oder Andrea Zyrd (sp, BE) geerbt werden, so die Medien.
Der GLP bescheinigten die Medien gute Aussichten; so wurde erwartet, dass sie ihre drei Sitze werde behalten können. Während die Wiederwahl von Parteipräsident Jürg Grossen (glp, BE), welcher gleichzeitig für den Ständerat kandidierte, als unbestritten galt, wurde in den Medien spekuliert, dass die Sitze von Kathrin Bertschy (glp, BE) und Melanie Mettler (glp, BE) weniger sicher seien. Letztere hatte 2019 einen zusätzlichen Sitz ergattert – auch dank der Listenverbindung mit der Mitte (damals CVP) und der EVP, welche dieses Jahr erneut zustande kam.
Die Mitte werde zwar ihre zwei Sitze wohl behalten können, mutmassten die Medien, Heinz Siegenthaler (mitte, BE) werde aber wohl nicht wiedergewählt. Siegenthaler hatte die Wahl bereits drei Mal (2014, 2017 und 2019) nicht direkt geschafft, war aber jeweils im Laufe der Legislatur nachgerutscht. Herausgefordert wurde Siegenthaler vom langjährigen Sicherheitsdirektor der Stadt Bern, Reto Nause (BE, mitte), und der Ex-Moderatorin von TeleBärn, Michelle Renaud (BE, mitte).
Auch dem Bisherigen Marc Jost (evp, BE) von der EVP trauten die Medien eine Wiederwahl zu.
Bei der SVP traten mit Andrea Geissbühler (svp, BE), Andreas Aebi (svp, BE) und Erich von Siebenthal (svp, BE) gleich drei der sieben Bisherigen aufgrund der parteiinternen Amtszeitbeschränkung nicht mehr an. Vier Personen wurden in den Medien als Favoritinnen und Favoriten für die drei Sitze genannt: Beat Bösiger (BE, svp), Thomas Knutti (BE, svp), Katja Riem (svp, BE) und Hans Jörg Rüegsegger (svp, BE). Jedoch fehlte der SVP Bern nach der Wahl von Albert Rösti 2022 in den Bundesrat ihr wichtigstes Zugpferd – Rösti war 2019 der bestgewählte Nationalrat im Kanton gewesen. Spekuliert wurde, dass die Kandidatur von Ständerat Werner Salzmann (svp, BE) für National- und Ständerat dem etwas entgegensteuern könne, da seine Wahl in beiden Räten als sicher galt. Dass die SVP eine Listenverbindung mit der FDP einging, wurde in den Medien derweil als Bonus für die SVP angesehen.
Uneinig war man sich hingegen bei der Frage, ob die FDP von der Listenverbindung mit der SVP ebenfalls profitieren werde. Einerseits könnten dadurch einige FDP-Wählende abgeschreckt werden, andererseits könne dies der FDP dazu verhelfen, ihre beiden Sitze zu behalten. Dabei stellte sich der FDP die schwierige Aufgabe, den Sitz von Christa Markwalder (fdp, BE), welche nach fünf Legislaturen nicht mehr antrat, zu verteidigen. Sandra Hess (fdp, BE), Stadtpräsidentin von Nidau und Grossrätin des Kanton Bern, wurden dabei die besten Chancen zugeschrieben – auch dank ihrer gleichzeitigen Ständeratskandidatur.
Die EDU hatte sich 2019 dank einer grossen Listenverbindung mit vielen Kleinparteien überraschend einen Sitz für Andreas Gafner (edu, BE) gesichert – diesen wollte man 2023 verteidigen. Auch bei dieser Wahl schloss sich die EDU insgesamt mit sechs kleinen Listen zu einem Bündnis zusammen, unter anderem mit den aus der Bewegung der Covid-19-Massnahmen-Gegnerinnen und -Gegner entstandenen Parteien Mass-voll und Aufrecht. Diese hofften, mit ihrem Bündnis gleich zwei Sitze zu erreichen.

Am Wahlsonntag kam es zu einer gewissen Korrektur der grünen Frauenwahl von 2019. So sank der Frauenanteil in der Berner Nationalratsdelegation von 54.2 Prozent in 2019 auf neu 41.7 Prozent (3 Frauen weniger). Zudem konnten die Grünen ihren vierten Sitz mit einem Stimmenanteil von 10.8 Prozent (-3.3 Prozentpunkte) nicht halten. Dieser Sitzverlust kostete Natalie Imboden (48'655 Stimmen) ihr Nationalratsmandat, im Amt bestätigt wurden hingegen Kilian Baumann (gp, BE; 61'393 Stimmen), Aline Trede (gp, BE; 60'809 Stimmen) und Christine Badertscher (52'719 Stimmen). Die GLP konnte zwar nicht an den Erfolg von 2019 anknüpfen, verzeichnete aber im Kanton Bern auch keine Sitzverluste. Ihre drei Bisherigen, Jürg Grossen (78'289 Stimmen), Kathrin Bertschy (57'821 Stimmen) und Melanie Mettler (43'133 Stimmen) wurden erneut gewählt und die Partei steigerte ihren Wähleranteil gar leicht von 9.7 Prozent auf 10.5 Prozent. Mit einem Rückgang der Wähleranteile um 0.9 Prozentpunkte auf nun 8.4 Prozent konnte die FDP den Sitz von Christa Markwalder nicht verteidigen. Trotz ihrem guten Ergebnis bei der Ständeratswahl gelang Sandra Hess (45'594 Stimmen) der Sprung in den Nationalrat nicht. Im Amt bestätigt wurde hingegen Christian Wasserfallen (fdp, BE; 61'214 Stimmen), der damit bereits seine fünfte Legislatur antrat.
Einen leichten Verlust an Wählerstimmen hatte auch die Mitte (im Vergleich zu den Wähleranteilen der CVP und BDP) zu verzeichnen: Sie erhielt 1.8 Prozentpunkte weniger als noch 2019 (neu: 8.1%). Dennoch gelang es ihr damit, ihre zwei Sitze zu verteidigen. Neben dem Bisherigen Lorenz Hess (mitte, BE; 52'334 Stimmen) wurde Reto Nause (42'022 Stimmen) bei seinem siebten Anlauf erstmals gewählt. Damit schaffte jedoch Heinz Siegenthaler (27'561 Stimmen) die Wiederwahl erneut nicht.
Als Gewinnerin der Nationalratswahlen in Bern tat sich die SP hervor, welche ihren Wähleranteil von 16.8 Prozent auf 20.7 Prozent (+3.9 Prozentpunkte) erhöhen und einen Sitz zurückgewinnen konnte. Dieser ging an die SP-Grossrätin Ursula Zybach (47'458 Stimmen), welche zwar weniger Stimmen erhielt als Ueli Schmezer (49'321 Stimmen), aber von der sehr stark abschneidenden SP-Frauenliste profitieren konnte. Diese hatte gut doppelt so viele Stimmen erhalten wie die SP-Männerliste. Entsprechend wurden Tamara Funiciello (sp, BE; 71'811 Stimmen), Nadine Masshardt (sp, BE; 80'947 Stimmen) und Flavia Wasserfallen (119'677 Stimmen) klar im Amt bestätigt. Da der ebenfalls wiedergewählte Matthias Aebischer (74'358 Stimmen) jedoch bereits im Vorfeld angekündigt hatte, dass er im Laufe der nächsten Legislatur zurücktreten werde – entweder aufgrund der Wahl in den Bundesrat oder falls es ihm gelingen sollte, den SP-Sitz von Michael Aebersold (BE, sp) im Berner Gemeinderat für die SP zu verteidigen –, dürfte Ueli Schmezer den Sprung in den Nationalrat nachträglich doch noch schaffen. Da Flavia Wasserfallen anschliessend in den Ständerat gewählt wurde, rückte Andrea Zryd (45'192 Stimmen) nach.
Auch die SVP, die als nationale Wahlsiegerin galt, konnte in Bern ihren Wähleranteil um 0.9 Prozentpunkte (neu: 30.9%) erhöhen und damit einen achten Sitz hinzugewinnen. Neu in den Nationalrat gewählt wurden damit für die SVP Werner Salzmann (122'105 Stimmen), Katja Riem (101'345 Stimmen) – die jüngste Nationalrätin in der neuen Legislatur –, Thomas Knutti (100'585 Stimmen) und Ernst Wandfluh (95'684 Stimmen). Bestätigt wurden die bisherigen Lars Guggisberg (svp, BE; 121'468 Stimmen), Erich Hess (svp, BE; 108'776 Stimmen), Manfred Bühler (svp, BE; 105'240 Stimmen), welcher den Berner Jura vertritt, und Nadja Umbricht Pieren (svp, BE; 101'447 Stimmen). Nachdem Werner Salzmann auch die Wahl in den Ständerat erneut geschafft hatte, rückte Hans Jörg Rüegsegger (94'967 Stimmen) nach.
Auch die EDU und die EVP konnten ihre beiden Sitze von Andreas Gafner (31'176 Stimmen) und Marc Jost (29'406 Stimmen) verteidigen.
Damit setzte sich die Berner Nationalratsdelegation neu wie folgt zusammen: 8 SVP, 5 SP, 3 GP, 3 GLP, 1 FDP, 2 Mitte, 1 EVP und 1 EDU. Mit 49.7 Prozent lag die Wahlbeteiligung 2023 um 2.3 Prozentpunkte höher als 2019 (47.7%).

Nationalratswahlen 2023 – Bern
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2023 - Überblick

Auf 27 Listen traten 103 Kandidierende zu den Nationalratswahlen 2023 im Kanton Schwyz an, die Medien sprachen von einer «Kandidatenflut», zumal damit der Rekord von vor vier Jahren (84 Personen auf 21 Listen) erneut überboten wurde. Ebenfalls eine deutliche Steigerung erfuhr der Frauenanteil der Kandidierenden, dieser kletterte um 11 Prozentpunkte auf 45 Prozent – ebenfalls ein neuer Rekord.

Schon vor der Wahl war klar, dass es zu personellen Veränderungen kommen würde, zumal zwei von vier Bisherigen nicht zur Wiederwahl antraten. Nach zwölf Jahren als Mitglied des Nationalrats verzichtete Alois Gmür (mitte, SZ) auf eine erneute Kandidatur. Um seinen Sitz zu verteidigen, setzte seine Partei – die Mitte – auf den Enkel der ersten Nationalratspräsidentin Elisabeth Blunschy: Dominik Blunschy (SZ, mitte) entstammt nicht nur einer bekannten Politikfamilie, sondern war auch bestgewählter Schwyzer Kantonsrat bei den Wahlen 2020. Als zweiter Bisheriger verzichtete Pirmin Schwander (svp, SZ) auf eine erneute Kandidatur für den Nationalrat und setzte somit alles auf seine Ständeratskandidatur. Mit Marcel Dettling verblieb jedoch ein prominenter Nationalrat auf der Liste der SVP; Dettling leitete überdies den Wahlkampf der nationalen SVP. Als weitere Bisherige trat auch die ehemalige Präsidentin der FDP Schweiz, Petra Gössi, erneut zur Nationalratswahl an. Gleichzeitig kandidierte sie jedoch auch für den Ständerat.

Die FDP machte von sich reden, indem sie gleich sieben Wahllisten präsentierte; diese umfassen neben der Hauptliste je eine Liste der Jungfreisinnigen, der Frauen und der «Boomers» sowie Listen mit spezifischen Themen, namentlich Gewerbe, Gesunde Finanzen und Innovation + Nachhaltigkeit. Die FDP verzichtete auf Listenverbindungen mit anderen Parteien. Die SP wollte ihren 2015 verlorenen Sitz zurückholen und die linke Minderheit des rechts-bürgerlich geprägten Kantons wieder in Bern vertreten. Dazu setzte sie vor allem auf das Thema «Kaufkraft» und lancierte eine entsprechende kantonale Volksinitiative. Mit den Grünen und zwei gewerkschaftsnahen Listen ging sie eine Listenverbindung ein, wobei es sich bei den gewerkschaftsnahen Listen um eine Liste des Gesundheits- und Pflegepersonals, sowie eine sogenannte «Liste für die Vielfalt» handelte. Die Mitte ging eine Listenverbindung mit der GLP und der EVP ein. Dabei nominierten die Grünliberalen den Bündner alt-Nationalrat Josias Gasser (glp, GR) als Spitzenkandidat, nachdem Ursula Lindauer (SZ, glp) «aus persönlichen Gründen» den ersten Listenplatz mit Gasser getauscht hatte. Die Medien spekulierten im Vorfeld darüber, ob die erstmals zu eidgenössischen Wahlen antretende Gruppierung Mass-Voll, die sich auch gegen die Corona-Massnahmen eingesetzt hatte, die SVP Stimmen kosten könnte. Um Verluste von SVP-nahen Wählendenstimmen an massnahmenkritische Kandidierende zu minimieren, ging der parteilose IT-Unternehmer und bekannte Massnahmenkritiker Josef Ender für seine «Freie Liste» – mit ihm als einzigem Kandidaten – mit der SVP eine Listenverbindung ein. Hingegen verzichtete die SVP im Kanton Schwyz auf eine Listenverbindung mit der Liste von Mass-Voll.

Den Wahlkampf liessen sich die Parteien einiges kosten, wie die aufgrund der neuen Transparenzregelungen bei der EFK zum ersten Mal offengelegten Budgets zeigen. Am meisten budgetierte im Kanton Schwyz die FDP mit CHF 170'000. Nur knapp dahinter folgte die SP mit CHF 167'000, wobei darin sowohl die Gelder für den National- als auch für den Ständeratswahlkampf zusammengefasst waren. Der Mitte standen CHF 120'000 für die Kampagne zur Verfügung, die SVP investierte CHF 114'000 in den Wahlkampf. Die Freie Liste von Josef Ender wies ein Budget von CHF 67'000 aus. Über deutlich weniger finanzielle Mittel verfügten die Grünliberalen und die Grünen mit CHF 20'500 respektive CHF 19'500.

Bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von 54.6 Prozent (+6 Prozentpunkte) wurden drei neue Nationalräte gewählt. Am meisten Wählendenanteile erzielte die SVP mit 35.9 Prozent (-1 Prozentpunkt) und verteidigte damit ihre zwei Sitze. Neben dem wiedergewählten Marcel Dettling (30'922 Stimmen) – der mit Abstand das beste Resultat aller Kandidierenden im Kanton Schwyz erreichte – wurde neu auch der SVP-Kantonalpräsident Roman Bürgi (svp, SZ) in den Nationalrat gewählt. Ihren zweiten Sitze verdankte die SVP auch der Listenverbindung mit Josef Ender und seiner Freien Liste, die aus dem Stand auf 8.9 Prozent der Wählendenstimmen kam. Die FDP erzielte einen Wählendenanteil von 19.6 Prozent und verlor damit 3.5 Prozentpunkte gegenüber den letzten Nationalratswahlen. Dennoch konnte sie ihren Sitz verteidigen; dieser wird neu von Heinz Theiler (fdp, SZ) besetzt, da Petra Gössi den Sprung in den Ständerat schaffte. Auch die Mitte konnte ihren Sitz verteidigen; sie erzielte 17.6 Prozent der abgegebenen Stimmen (-1.4 Prozentpunkte) und wird in der kommenden Legislatur von Neo-Nationalrat Dominik Blunschy in Bundesbern vertreten. Erfolglos blieben die übrigen Parteien. Die SP verlor weiter an Wählendenanteilen und kam noch auf 10.9 Prozent (-2.9 Prozentpunkte), womit sie ihr Ziel von einem linken Schwyzer Nationalratssitz deutlich verfehlte. Bei der GLP Schwyz war das Abflauen der grünen Welle zu spüren, sie erreichte noch 3.3 Prozent (-1.3 Prozentpunkte). Die Grünen (2.7 Prozent; +0.1 Prozentpunkte) und die EVP (0.5 Prozent; -0.2 Prozentpunkte) konnten ihre Anteile ungefähr halten. Die zum ersten Mal angetretene Liste von Mass-Voll (0.6 Prozent) schnitt eher bescheiden ab. Somit wird der Kanton Schwyz, trotz des rekordhohen Frauenanteils unter den Kandidierenden, in der 52. Legislatur von einer reinen Männerdelegation im Nationalrat vertreten.

Nationalratswahlen Schwyz
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2023 - Überblick

Auf die sechs Sitze, die bei den Nationalratswahlen 2023 im Kanton Thurgau zu vergeben waren, bewarben sich 210 Personen auf 36 Listen – und damit deutlich mehr als vor vier Jahren (135 Kandidierende auf 23 Listen). Grund dafür waren vor allem die zahlreichen Unterlisten, welche die GLP (7 Listen) und die Mitte (10 Listen) eingereicht hatten. Gegenüber den letzten Nationalratswahlen gesunken war hingegen der Frauenanteil, der neu bei 37.6 Prozent lag (2019: 43.7%).

Von der bisherigen Thurgauer Delegation in Bundesbern (bestehend aus drei Mitgliedern der SVP und je einem Mitglied der Mitte, der SP und den Grünen) traten die beiden Nationalrätinnen Edith Graf-Litscher (sp, TG) und Verena Herzog (svp, TG) nicht zur Wiederwahl an. Die mediale Aufmerksamkeit galt in der Folge insbesondere diesen beiden frei gewordenen Sitzen. Die Sozialdemokraten versuchten, den Sitz ihrer abtretenden Nationalrätin mit Kantonsrätin Nina Schläfli zu sichern, und taten sich dafür erneut mit den Grünen und den Grünliberalen zu einer «ökologischen Allianz» (TZ) zusammen. Die SVP musste ohne ihre langjährige Verbündete, die EDU, antreten. Diese schloss sich stattdessen mit der Gruppierung Aufrecht – hervorgegangen aus der Protestbewegung gegen die Corona-Massnahmen – zusammen. Erklärt hatte die EDU diesen Schritt mit strategischen Überlegungen; sie versprach sich bei den Grossratswahlen 2024 von den Stimmen der neuen Partnerin zu profitieren. Neben Aufrecht trat neu auch die massnahmenkritische Bewegung Mass-voll mit einer Liste an, jedoch ohne eine Listenverbindung einzugehen. Die FDP bevorzugte eine Zusammenarbeit mit der Mitte und der EVP, nachdem sie bei den letzten Nationalratswahlen ihren Sitz in einer Listenverbindung mit der SVP verloren hatte. Bei der angepeilten Rückeroberung dieses Sitzes zeichnete sich ein listeninterner Zweikampf zwischen dem alt-Nationalrat Hansjörg Brunner und Kantonsrätin Kris Vietze, welche auch für den Ständerat kandidierte, auf den ersten beiden Listenplätzen ab. Die Medien sprachen diesbezüglich von einem Kampf zwischen dem Gewerbe – Brunner war Präsident des Thurgauer Gewerbeverbands – und der Industrie – Vietze war Präsidentin der kantonalen Industrie- und Handelskammer. Von den vier wiederantretenden Bisherigen – Diana Gutjahr (svp), Manuel Strupler (svp), Christian Lohr (mitte) und Kurt Egger (gp) – schrieben die Medien dem Mitte-Nationalrat Lohr die grössten Wahlchancen zu; seine Wiederwahl «scheint so sicher wie das – wenn auch immer weniger zu hörende – Amen in der Kirche», war etwa in der Thurgauer Zeitung zu lesen.

Im Vorfeld der Wahlen sorgte der Thurgauer Gewerbeverband für eine Kontroverse, als er ausschliesslich Kandidierende von der FDP, SVP, Mitte und EDU zur Wahl empfahl, nicht aber seine Verbandsmitglieder Kurt Egger und Peter Dransfeld (beide Grüne) sowie Ueli Fisch und Stefan Leuthold (beide GLP). Letzterer, bis dahin im Vorstand des Frauenfelder Gewerbeverbands, trat als Reaktion gar aus dem Verband aus. Ferner veröffentlichte die Thurgauer Zeitung die bei der EFK offengelegten Wahlkampfbudgets, die aufgrund der neuen Transparenzregeln bei diesen Wahlen zum ersten Mal ausgewiesen werden mussten. Dabei verfügte die stimmenstärkste Partei – die SVP – mit CHF 239'000 auch über das grösste Budget, dicht gefolgt von der FDP mit einem Budget von CHF 232'000. Alle anderen Parteien wiesen deutlich bescheidenere finanzielle Mittel aus; der SP standen CHF 120'000, der Mitte und der GLP je CHF 70'000 und den Grünen CHF 50'000 zur Verfügung. Die EDU, Aufrecht Thurgau und die EVP lagen mit CHF 25'000, CHF 15'000 und CHF 5'000 unter der Deklarationsschwelle von CHF 50'000, dies teilten sie auf Anfrage der Zeitung mit. Das Budget von Mass-voll lag wohl ebenfalls unter der Schwelle, jedoch liessen sie die Anfrage nach genauen Zahlen unbeantwortet. Mit CHF 150'000 verfügte Kris Vietze von der FDP, die sowohl für den National- als auch den Ständerat antrat, über das höchste Budget aller Kandidierenden, wobei CHF 50'000 von ihr selbst finanziert wurden. Den zweiten Platz belegte Pascal Schmid von der SVP; sein Wahlkampfbudget in der Höhe von CHF 129'000 stammte gemäss eigenen Aussagen von über 300 Unternehmen und vielen Einzelpersonen aus dem «breiten bürgerlichen Spektrum».

Bei einer Wahlbeteiligung von 46.6 Prozent (+4.2 Prozentpunkte) konnte die SP am Wahlsonntag den Sitz der abtretenden Edith Graf-Litscher durch die Wahl von Nina Schläfli verteidigen, obwohl sie von den Thurgauer Parteien am meisten Prozentpunkte an Wählendenanteilen verlor (-2.4 Prozentpunkte) und noch auf einen Anteil von 10.2 Prozent kam. Damit blieb sie jedoch die stärkste Partei innerhalb der «ökologischen Allianz». Das nationale Abebben der «grünen Welle» war auch im Thurgau zu spüren, denn Kurt Egger gelang die Wiederwahl nicht und die Grünen konnten ihren Sitz bei einem Wählendenanteil von 8.5 Prozent (-2.1 Prozentpunkte) nicht verteidigen. Auch die GLP verlor 1.5 Prozentpunkte und fiel mit 6.6 Prozent Wählendenanteilen fast auf den Stand von vor der «Klimawahl» 2019 zurück. Hingegen steigerte die SVP ihren Wählendenanteil um 3.6 Prozentpunkte auf 40.3 Prozent. Sie erzielte in allen 80 Thurgauer Gemeinden am meisten Stimmen und konnte – dank Proporzglück, wie die Medien erklärten – den Sitz der nicht zur Wiederwahl angetretenen Verena Herzog durch die Wahl von Pascal Schmid verteidigen. Somit belegt die Volkspartei mit ihren beiden wiedergewählten Bisherigen, Diana Gutjahr und Manuel Strupler, auch zukünftig die Hälfte der Thurgauer Nationalratsmandate. Erfolgreich war auch die Thurgauer FDP, die nach vierjähriger Abwesenheit wieder in Bern vertreten sein wird. Mit einem Wählendenanteil von 10.7 Prozent (-0.8 Prozentpunkte) eroberte sie den Sitz der Grünen durch die Wahl von Kris Vietze, die mit knappen 456 Stimmen Vorsprung auf Hansjörg Brunner die meisten Stimmen in der Partei holte. Wiedergewählt wurde Christian Lohr, dem wie schon 2015 und 2019 der Titel «Panaschierkönig» (TZ) verliehen wurde. Seine Partei, die Mitte, legte 2.6 Prozentpunkte zu und kam neu auf einen Wählendenanteil von 15.3 Prozent. Somit konnte sie die 2019 von der BDP erzielten Wählendenanteile (2.3%) übernehmen. Anders als auf nationaler Ebene hatten die thurgauischen Kantonalsektionen der CVP und BDP nicht fusioniert, stattdessen hatte sich die CVP Thurgau umbenannt und die BDP Thurgau aufgelöst. Ihre Anteile ganz oder fast halten konnten die EDU (2023: 2.8%; keine Veränderung) sowie die EVP (2023: 2.4%; -0.3 Prozentpunkte). Eher bescheiden schnitten die beiden neu angetretenen massnahmenkritischen Listen – Aufrecht Thurgau (2023: 1.9%) und Mass-Voll (2023: 1.1%) – ab. Damit stellt die SVP in der 52. Legislatur drei Nationalratsmitglieder für den Kanton Thurgau sowie die Mitte, die FDP und die SP je einen. Wie bereits in der vorangegangenen Legislatur besteht die Thurgauer Delegation aus drei Männern und drei Frauen.

Nationalratswahlen 2023 – Thurgau
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2023 - Überblick

Viel Spannung erwarteten die Medien vor den Ständeratswahlen 2023 im Kanton Thurgau nicht: Da die zwei Bisherigen, Brigitte Häberli-Koller (mitte) und Jakob Stark (svp), erneut zur Wahl antraten und sich gegenseitig zur Wiederwahl empfahlen, spekulierten die Medien hauptsächlich darüber, ob es beiden gelingen würde, bereits im ersten Wahlgang das absolute Mehr zu erreichen. Brigitte Häberli-Koller galt in den Medien als Favoritin, da sie über die Parteigrenzen hinaus beliebt und unter anderem dank ihrer Ständeratspräsidentschaft sehr bekannt sei. Jakob Stark hingegen lag laut einer von der Thurgauer Zeitung publizierten Umfrage einen Monat vor der Wahl nur knapp über dem absoluten Mehr, obwohl er der mit Abstand wählerstärksten Partei angehört.

Den übrigen vier Kandidierenden unterstellten die Medien, dass sie mit ihren Ständeratskandidaturen vor allem ihre Bekanntheit oder auch ihre Chancen bei den Nationalratswahlen erhöhen wollten. Für die FDP kandidierte die Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Thurgau, Kris Vietze, die als erste freisinnige Thurgauerin den Sprung ins Stöckli schaffen wollte. Die GLP schickte Stefan Leuthold ins Rennen und unterstützte auch Brigitte Häberli-Koller. Gleichzeitig kritisierten die Grünliberalen die Ständerätin für ihren «Pakt» mit ihrem Ratskollegen: diese Allianz sei «opportunistisch» und «legitimiere die teils populistischen Kräfte innerhalb der SVP». Die SP und die Grünen verzichteten auf eigene Kandidaturen, was laut Medien als Zugeständnis an die GLP für die gemeinsame Listenverbindung bei den Nationalratswahlen zu verstehen sei. Sowohl die Sozialdemokraten als auch die Grünen empfahlen nur den Grünliberalen Leuthold zur Wahl. Zusätzlich kandidierten Robin Spiri von Aufrecht Thurgau und die Parteilose Gabriela Coray, die in der Vergangenheit schon mehrfach für politische Ämter kandidiert hatte, so auf kantonaler Ebene zuletzt bei den Regierungsratsersatzwahlen 2015 und auf eidgenössischer Ebene bereits bei den Ständeratswahlen 2019.

Am Wahltermin setzte der Kanton Thurgau bei den Ständeratswahlen auf Kontinuität: Brigitte Häberli-Koller (51'209 Stimmen) wurde mit einem Glanzresultat, wie die Medien schrieben, für ihre bereits vierte Legislatur im Ständerat gewählt. Auch Jakob Stark (46'126 Stimmen) übertraf das absolute Mehr (37'391 Stimmen) deutlich und darf den Thurgau für eine zweite Vierjahresperiode im Ständerat vertreten. Eine kleine Überraschung machten die Medien bei der Platzierung hinter den Gewählten aus: Stefan Leuthold (19'290 Stimmen) verwies Kris Vietze (17'665 Stimmen) auf den vierten Platz, obwohl die Umfragen vor der Wahl die Freisinnige auf dem dritten Platz gesehen hatten. Stattdessen wurde die FDP-Kantonsrätin in den Nationalrat gewählt, während der Grünliberale Leuthold den Sprung nach Bundesbern auch bei der Nationalratswahl verpasste. Deutlich weniger Stimmen erzielten Robin Spiri (7'397 Stimmen) und Gabriela Coray (3'623 Stimmen), Vereinzelte erzielten insgesamt 5'227 Stimmen. Die Wahlbeteiligung stieg im Vergleich zu vor vier Jahren auf 47.3 Prozent (+4.7 Prozentpunkte). In der Folge spekulierten die Medien bereits über einen möglichen vorzeitigen Rücktritt der beiden Gewählten während der neuen Legislatur, da diese das Pensionsalter bereits erreicht hatten. Einen solchen verneinten die beiden wiedergewählten Thurgauer Standesvertretenden jedoch dezidiert.

Ständeratswahlen 2023 – Thurgau
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2023 - Überblick

Anfang September 2023 unterbreitete der Bundesrat dem Parlament den Entwurf für die Änderung des Bankengesetzes zur Einführung des Public Liquidity Backstops (PLB). Die Einführung sowie die Eckwerte dieses neuen Instruments hatte der Bundesrat bereits im Frühling 2022 beschlossen. Wegen des drastischen Vertrauensverlusts in die Credit Suisse zu Beginn des Jahres 2023 hatte sich die Situation auf dem Finanzmarkt allerdings so verschärft, dass der Bundesrat den PLB bereits im März 2023 gemeinsam mit anderen Massnahmen per Notrechtsverordnung eingeführt hatte, bevor sich das Parlament dazu hatte äussern können. Teile dieser Bestimmungen seien auch nach Beendigung der Verträge zur Liquiditätshilfe mit der CS im August weiterhin notwendig, weshalb die Landesregierung dem Parlament innert sechs Monaten nach Einführung der notrechtlichen Massnahmen eine Vorlage zur Überführung dieser Notverordnung ins ordentliche Recht vorlegen müsse, um zu verhindern, dass diese Bestimmungen ausser Kraft treten, so der Bundesrat. Die vorliegende Vorlage zur Änderung des BankG nehme er somit zugleich als Anlass, dem Parlament jene Bestimmungen zu unterbreiten.

Gemäss Vorlage soll die SNB künftig zeitlich begrenzte Liquiditätshilfe-Darlehen bereitstellen können, die durch den Bund mittels einer Ausfallgarantie gesichert würden. Der Bundesrat sah in seinem Entwurf vor, dass er die Höhe des Darlehens jeweils im Einzelfall festlegen und den dazu notwendigen Verpflichtungskredit im Dringlichkeitsverfahren der FinDel unterbreiten werde. Der Erhalt einer solchen Liquiditätshilfe soll zudem an verschiedene Voraussetzungen, wie etwa ein entsprechendes öffentliches Interesse, die Verhältnismässigkeit der Staatsintervention, die Subsidiarität der Liquiditätshilfe, die Einleitung eines Sanierungsverfahrens durch die betroffene Bank sowie deren Solvenz geknüpft werden. Zur Reduktion des Verlustrisikos des Bundes, welches durch die Ausfallgarantie entstehe, beinhalte die Vorlage als Kernelement ein Konkursprivileg für die Forderungen der SNB, welche durch das Darlehen mit Ausfallgarantie bestünden. Nicht zuletzt seien durch die betroffene Bank Risikoprämien für die bezogenen Darlehen zuhanden der SNB und des Bundes sowie Zinsen für die Darlehenskosten zuhanden der SNB zu entrichten. Der Bundesrat anerkenne, dass diese zusätzlichen Liquiditätsdarlehen mit Ausfallgarantie zu Fehlanreizen für systemrelevante Banken (SIB) führen könnten. Dem werde jedoch zum einen durch die bereits heute erhöhten Anforderungen für SIB zur angemessenen Abdeckung ihrer Liquiditätsrisiken entgegengewirkt. Zum anderen beinhalte die Vorlage des PLB strafrechtliche Regelungen, die vorsehen, dass SIB, die solche Darlehen beziehen, verschiedenen Auflagen wie etwa Dividendenverboten oder Massnahmen im Bereich der Vergütungen unterliegen. Unter bestimmten Umständen werde zudem neu ermöglicht, bereits ausbezahlte variable Vergütungen zurückzufordern. Bei Insolvenzgefahr könnte die FINMA nach geltendem Recht zudem umfassende restrukturierende und disziplinierende Massnahmen anordnen.

Auch Teile der Notverordnung vom März 2023, namentlich die rechtlichen Grundlagen für die Gewährung der zusätzlichen Liquiditätshilfen (ELA+), seien weiterhin relevant und sollen deshalb fortgeführt werden: Die Credit Suisse habe zwar sämtliche Darlehen im August vollständig zurückbezahlt, könne solche aber während der Geltungsdauer des Vertrags und unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen weiterhin beziehen. Die Geltungsdauer zusätzlicher Liquiditätshilfe-Darlehen der SNB werde jedoch bis Ende 2027 beschränkt, wobei der Bundesrat die ins Gesetz überführten Verordnungsbestimmungen für die ELA+ innert fünf Jahren nach deren Inkrafttreten überprüfen werde. Es sei zudem vorgesehen, dass im Bericht zur Aufarbeitung der CS-Krise das gesamte TBTF-Regelwerk und damit auch das Instrument des PLB noch einmal umfassend beurteilt werde. Die Ergebnisse des Berichts würden dem Parlament im Frühjahr 2024 unterbreitet.

Die Vorlage zum PLB, die vom 25. Mai bis 21. Juni 2023 in die verkürzte Vernehmlassung geschickt worden war, war bei den 58 Stellungnehmenden nicht auf ungeteilte Zustimmung gestossen. Befürwortung fand sie dabei bei einer grossen Mehrheit der kantonalen Staatskanzleien, den Banken inklusive der SNB, Travail.Suisse und economiesuisse sowie der FDP und der GLP. Während die Mitte, die SP, der Zürcher Kantonsrat, der SGB und der Kanton Waadt der Vernehmlassungsvorlage nur teilweise zustimmten, lehnten die Grünen, die SVP und der SGV die Vorlage vollständig ab. Als Hauptkritikpunkt wurde von vielen Seiten ein im Vernehmlassungsentwurf noch fehlender Abgeltungsmechanismus vorgebracht, wodurch «der Eindruck der Privatisierung von Gewinnen und Verstaatlichung von Verlusten» entstehe, wie der Bundesrat im Ergebnisbericht der Vernehmlassung die Kritik zusammenfasste. In Verbindung damit wurde auch die Befürchtung geäussert, dass der PLB zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen SIB und nicht-SIB führen könnte. Der Bundesrat solle deshalb erneut die Einführung eines Mechanismus zur Entschädigung des für den Bund entstehenden Risikos prüfen. Diesem Kritikpunkt kam der Bundesrat in seiner Botschaft entgegen, indem er die Lücke des fehlenden Abgeltungsmechanismus für das Risiko aus der Ausfallgarantie mit einer durch SIB zu bezahlenden Ex-Ante-Entschädigung in Form der Pauschale zuhanden des Bundeshaushalts füllte.

Als Reaktion auf die Rückmeldungen der Vernehmlassung nahm der Bundesrat an seinem Vernehmlassungsentwurf weitere Änderungen vor. So hatte er ursprünglich vorgesehen, das Konkursprivileg in der Gläubigerhierarchie vor den Forderungen aus Freizügigkeits- und Säule-3a-Konti einzustufen, womit letztere im Falle einer nicht ausreichenden Konkursmasse der SIB nicht bedient werden könnten. Da es sich hierbei um einen Zielkonflikt zwischen dem Schutz der Vorsorgegelder und dem Schutz der Gesamtheit der Steuerzahlenden handle, hatte der Bundesrat sich in der Vernehmlassungsvorlage bereit gezeigt zu prüfen, wie die Vorsorgegelder besser geschützt werden könnten, was von den Vernehmlassungsteilnehmenden begrüsst worden war. Die daraufhin erfolgte Prüfung hatte eine Anpassung des Entwurfs zur Folge: Hatte bei der Regelung des Konkursprivilegs in der Vernehmlassungsvorlage noch das Interesse der Steuerzahlenden überwogen, müssen gemäss Botschaftsentwurf Forderungen aus Freizügigkeits- und Säule-3a-Guthaben neu vor jenen der SNB befriedigt werden.

Weiter wurde in der Vernehmlassung unter anderem die Kritik geäussert, dass die Überführung der Notverordnung generell unnötig sei. Die Überführung respektive deren Ablehnung hätte auf die im Frühsommer 2023 noch bestehenden Vertragsteile mit der Credit Suisse keine konkreten Auswirkungen und auch die Dringlichkeit dieser Überführung wurde zu diesem Zeitpunkt in Frage gestellt. Kritisiert wurden zudem die zusätzlichen Liquiditäts-Darlehen der SNB, welche die CS noch bis 2027 beziehen könne. Für diese gebe es keine Sicherheiten im eigentlichen Sinne, womit sie die SNB-Ausschüttungsreserve für Bund und Kantone womöglich schmälerten. Zudem setzten sie Fehlanreize und schränkten die Unabhängigkeit und die geldpolitische Handlungsfähigkeit der SNB ein. Aufgrund der inzwischen veränderten Ausgangslage durch die beendeten Verträge mit der CS, hatte der Bundesrat nach der Vernehmlassung zwar einen grossen Teil der Bestimmungen der Notverordnung aus der Vorlage gestrichen, hielt jedoch an seiner Position zur Zweckmässigkeit der Überführung von weiterhin relevanten Teilen der Notverordnung in eine ordentliche Rechtsgrundlage fest.

Bankengesetz. Änderung («Public Liquidity Backstop») (BRG. 23.062)
Dossier: Übernahme der Credit Suisse durch die UBS

Ende August 2023 veröffentlichte die WAK-NR ihren Entwurf zur Änderung des ArG in Umsetzung einer parlamentarischen Initiative Dobler (fdp, SG) zur Streichung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für Arbeitnehmende von Start-ups. Der Entwurf sah vor, dass Arbeitnehmende, die Anteile an Start-ups halten, in den ersten fünf Jahren nach Gründung des Start-ups nicht mehr verpflichtet sind, ihre Arbeitszeit zu erfassen. Damit sollte die Flexibilität der Start-ups verbessert werden. Hingegen sollten die entsprechenden Mitarbeitenden weiterhin den Gesundheitsschutzbestimmungen unterliegen. Die Kommission verzichtete darauf, den Begriff «Start-up» zu definieren, und sprach im Gesetzesentwurf lediglich von «seit weniger als fünf Jahren bestehenden Unternehmen». Zum Entwurf lagen zahlreiche Minderheitsanträge vor, unter anderem ein Minderheitsantrag Wermuth (sp, AG) auf Nichteintreten.

Zum Vorentwurf des Gesetzes hatte von November 2022 bis März 2023 eine Vernehmlassung stattgefunden, wobei 49 Stellungnahmen eingegangen waren. Während die Hälfte der Kantone, FDP, Mitte und GLP sowie die Arbeitgeberorganisationen die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen für Start-ups befürworteten – und ihnen der Entwurf teilweise gar zu wenig weit ging –, lehnten die anderen Kantone, die SP und die Arbeitnehmerorganisationen den Entwurf ab, da sie ihn als Schwächung des Arbeitnehmerschutzes erachteten. Einig waren sich die Kantone darin, dass verschiedene unklare Begriffe präzisiert werden sollten, da sie sonst zu Missbrauch führen könnten.
In der Folge hatte die WAK-NR die Verwaltung zwar damit beauftragt, die Begriffe «Start-up» und «Mindestbeteiligung» zu präzisieren, dann aber im August 2023 mit 14 zu 8 Stimmen entschieden, diese Präzisierungen nicht in den Entwurf aufzunehmen und ihn den Räten unverändert vorzulegen.

Libérer les employés de start-up détenant des participations de l'obligation de saisie du temps de travail (Iv.pa.16.442)
Dossier: Arbeitszeitliberalisierung
Dossier: Revision des Arbeitsgesetz (ArG)

Am 18. Juni 2023 gelangte der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, der mittlerweile unter dem Titel Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KlG) lief und meist als «Klimagesetz» bezeichnet wurde, zur Abstimmung. Die Vorlage umfasste Fördergelder für den Ersatz von fossilen Heizungen und für innovative Technologien sowie Ziele und Richtwerte für die Treibhausgasreduktion, etwa in Form von Reduktionszielen für die einzelnen Sektoren Verkehr, Industrie und Gebäude. Das grundlegende Ziel der Vorlage lag in der Erreichung von Netto Null bis 2050. Die einzelnen dafür notwendigen Massnahmen sollten jedoch erst im Rahmen der Weiterentwicklung des CO2-Gesetzes festgelegt werden.

Gegen dieses neue Gesetz hatte die SVP erfolgreich das Referendum ergriffen. Sie wurde dabei vom HEV und kleineren rechts-konservativen Parteien unterstützt. Die Gegnerschaft kritisierte, dass die Umsetzung des Gesetzes zwangsläufig zu einem Verbot von Öl, Gas, Diesel und Benzin führen werde. Infolgedessen würden der Strombedarf und die entsprechenden Kosten massiv steigen. Der erhöhte Strombedarf werde wiederum dazu führen, dass die Landschaft mit Windkraftanlagen und Solarpanels zerstört werde und trotzdem könne es gerade im Winter zu einer Strommangellage kommen.

Die Befürworterinnen und Befürworter des Klimagesetzes bestanden aus den Parteien Grüne, SP, GLP, Mitte, EVP sowie FDP.Liberale. Dazu gesellten sich noch zahlreiche Organisationen und Verbände, wie etwa Swissmem, der Schweizer Tourismus-Verband oder auch die Bankiervereinigung. Auch die Kantone, in Form der KdK, unterstützten das Gesetz. Koordiniert wurden die verschiedenen Akteurinnen und Akteure durch den eigens für den Abstimmungskampf gegründeten «Verein Klimaschutz», welcher laut eigenen Angaben über ein Budget von rund CHF 4 Mio verfügte. Das Komitee der Befürwortenden argumentierte, dass die Vorlage den Klimaschutz stärke, wichtige Anreize für die Abkehr von Öl und Gas setze und damit auch die Abhängigkeit der Schweiz von ausländischen Energielieferanten verringere. Die Bevölkerung und die Schweizer Wirtschaft würden finanziell entlastet, respektive bei der Entwicklung von klimafreundlichen Technologien unterstützt. Die Umsetzung des Gesetzes geschehe – entgegen der Einschätzung der Gegnerschaft – ohne Verbote oder neue Abgaben.

In den Medien gab besonders die Position des HEV Schweiz zu reden. Dieser hatte die Nein-Parole beschlossen, mehrere kantonale Sektionen sprachen sich jedoch für ein Ja oder für Stimmfreigabe aus. Aufgrund der Kampagne des HEV, die sich optisch und inhaltlich an der Kampagne der SVP ausrichtete, gab der damalige Ständerat Ruedi Noser (fdp, ZH) gar seinen Austritt aus dem HEV bekannt und kritisierte, dass der HEV von der SVP übernommen worden sei. In den Medien meldeten sich auch die beiden Klimawissenschaftler Thomas Stocker und Reto Knutti zu Wort. Während sich Stocker über die grelle Kampagne der SVP, welche lediglich Ängste schüre, und über einen vom Komitee «Rettung Werkplatz Schweiz» an fast alle Schweizer Haushalte versendeten Flyer enervierte – letzterer sei «unerträglich» und voller Unwahrheiten – monierte Knutti, dass lediglich über die zu befürchtenden Kosten und den Strom gesprochen werde und nicht über den Nutzen, der in der Erhaltung unserer Lebensgrundlagen liege.

Wie die APS- Zeitungs- und Inserateanalyse, welche im Vorfeld der Abstimmung durchgeführt wurde, zeigte, wurde die Abstimmungsvorlage überdurchschnittlich stark mit Inseraten beworben. Gut zwei Drittel der Inserate stammten dabei aus dem Lager der Befürwortenden, ein Drittel von den Gegnerinnen und Gegnern. Dieses Verhältnis deckte sich in etwa mit demjenigen zur Abstimmung über das CO2-Gesetz in 2021. Dem Anfang Juni 2023 publizierten Zwischenbericht des Fög konnte entnommen werden, dass das Klimagesetz in den Medien starke Beachtung fand und überwiegend positiv darüber berichtet wurde. Interessanterweise lösten nicht nur die offiziellen Kampagnen-Starts von Befürwortenden und Gegnerschaft, sondern auch die Turbulenzen um die Position des HEV einen Peak in der Medienberichterstattung aus.

In den Vorumfragen fand das Klimagesetz eine hohe, aber über die Zeit abnehmende Zustimmung. So zeigte etwa die Anfang Juni 2023 veröffentlichte dritte Umfragewelle von 20 Minuten/Tamedia, dass 56 Prozent der Befragten dem Gesetz zustimmen wollten (« Ja» oder « Eher Ja»). Der Tages-Anzeiger griff aus dieser Vorumfrage die Stimmungslage der Anhängerinnen und Anhänger der FDP heraus. Bemerkenswerterweise beabsichtigten diese grossmehrheitlich, die Vorlage abzulehnen, obwohl die Partei offiziell die Ja-Parole beschlossen hatte.

Das Abstimmungsresultat vom 18. Juni fiel dann jedoch deutlicher aus, als es die Vorumfragen prophezeit hatten. Bei einer Stimmbeteiligung von 42.5 Prozent stimmten fast 60 Prozent der Stimmenden für das neue Klimagesetz.

Abstimmung vom 18. Juni 2023

Beteiligung: 42.54%
-Ja: (59.1%)
-Nein: (40.9%)

Parolen:
-Ja: EVP, FDP (1*), GLP, GPS, Mitte, PdA, SP; SBV, SGB, VPOD
-Nein: EDU, Lega, SVP; HEV (4)
-Stimmfreigabe: SD
* in Klammern Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Die Vox-Analyse brachte zu Tage, dass die Parteizugehörigkeit respektive -sympathie ausschlaggebend war für das Stimmverhalten. So sprachen sich lediglich Personen, die sich als rechtsaussen bezeichneten und/oder sich der SVP zugehörig fühlten, mehrheitlich gegen das Klimagesetz aus. Anders als bei der Abstimmung im Jahr 2021 votierten die Sympathisantinnen und Sympathisanten der Mitte und der FDP nun mehrheitlich für das Klimagesetz (64% respektive 66%). Das Geschlecht war ebenfalls ein wichtiger Faktor beim Abstimmungsverhalten: Frauen legten häufiger ein Ja in die Urne als Männer (63% respektive 55% Ja-Anteil). Zudem sprachen auch ein hoher Bildungsgrad sowie ein hohes Salär tendenziell für eine Zustimmung zum Klimagesetz. Bei den Motiven für oder gegen das Gesetz wurden insbesondere das Thema «Umweltschutz» und «Kostenfolgen» genannt. Während sich die Befürwortenden also vor allem einen Ausbau des Umweltschutzes erhofften, kritisierten die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage die Kosten, die mit der Umsetzung des Gesetzes einhergehen.
Die Medien ergänzten, dass wohl auch die Unverbindlichkeit der Vorlage – sie bestand bekannterweise mehrheitlich aus Zielen sowie Fördergeldern und nicht aus neuen Abgaben – zum klaren Ja geführt hatte. Zudem wurde an jenem Sonntag, im Gegensatz zur Abstimmung über das CO2-Gesetz von 2021, nicht noch über weitere umweltpolitische Anliegen abgestimmt, welche die ländliche Bevölkerung vermehrt an die Urne gelockt hätte und für mehr Nein-Stimmen hätte sorgen können. Bei der Frage nach dem « Wie weiter?» waren sich die Medien einig, dass die grosse Arbeit jetzt erst anfange. Diese bestehe darin, rasch viel Strom zu produzieren. Die politischen Akteure waren sich jedoch uneinig, wie dies am Besten geschehen solle. Zum einen befand sich der sogenannte Mantelerlass zur Zeit der Abstimmung über das Klimagesetz auf der Zielgeraden. Er soll die Erzeugung von Solar- und Windenergie sowie der Wasserkraft stark vorantreiben. Zum anderen wurde bereits im August 2022 mit der Unterschriftensammlung für die Initiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» gestartet, welche sich mehr oder weniger explizit für den Bau neuer Atomkraftwerke ausspricht.

Indirekter Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative. Netto null Treibhausgasemissionen bis 2050 (Pa.Iv. 21.501)
Dossier: Die Gletscherinitiative, ihr direkter Gegenentwurf und ihr indirekter Gegenvorschlag

Ende März veröffentlichte die SPK-SR den Bericht zur Vernehmlassung der Umsetzung der vier Standesinitiativen (ZG: 19.311, BL: 20.313, LU: 20.323, BS: 21.311), die eine bessere Vereinbarkeit von Mutterschaft und Parlamentsmandat verlangen. Konkret sollen Frauen nach der Geburt eines Kindes ihre Mutterschaftsentschädigung nicht mehr verlieren, wenn sie ein politisches Legislativmandat wahrnehmen. Aktuell erlischt der Anspruch, wenn eine Erwerbstätigkeit wieder aufgenommen wird, wozu auch die Arbeit als Parlamentarierin gezählt wird. Dies führt dazu, dass gewählte Parlamentarierinnen entweder nicht an Sitzungen teilnehmen oder aber den Auftrag der Wählenden wahrnehmen, dadurch aber auf ihre Entschädigung verzichten müssen. Dies soll mit einer Revision des Erwerbsersatzgesetzes geändert werden. Die Vorlage sieht vor, dass eine Teilnahme an Plenar- oder Kommissionssitzungen auf allen drei föderalen Ebenen durch eine Frau – Männer bzw. Vaterschaftsurlaubsregelungen wurden explizit ausgenommen – deren Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung nicht mehr beeinträchtigt, es sei denn, es bestehe eine Stellvertretungslösung.

Die Mehrheit der 53 eingegangenen Stellungnahmen in der Vernehmlassung unterstützten den Umsetzungsvorschlag. Von den 25 antwortenden Kantonen (GR hatte auf eine Stellungnahme verzichtet), sprachen sich 18 dafür aus, Aargau, Nidwalden und Genf wollten die Einschränkung durch die Stellvertreterlösungen streichen und Solothurn wollte nicht bloss Plenar- und Kommissionssitzungen, sondern sämtliche mit einem Mandat verbundenen Tätigkeiten aufführen. Gegen die Vorlage stellten sich Appenzell Ausserrhoden, Thurgau und Schwyz, die eine Aufweichung des Mutterschutzes befürchteten: Die Regelung könnte dazu führen, dass sich Mütter mit einem politischen Mandat verpflichtet fühlten, ihren Mutterschaftsurlaub zu unterbrechen, so die Begründung. EVP, FDP, GLP, GP, Mitte und SP begrüssten die geplante Umsetzung, die SVP lehnte sie ab, weil sie eine Besserbehandlung von Politikerinnen gegenüber anderen berufstätigen Frauen bedeute. Umstritten war die Vorlage bei den Verbänden. Bei den Gewerkschaften begrüsste der SGB die Vorlage grundsätzlich, warnte aber vor weiteren Lockerungen; Travail.Suisse stellte sich gegen jegliche Lockerung des Mutterschutzes und lehnte die Vorlage ab. Die Arbeitgeberverbände (SAV und SGV) kritisierten die Ungleichbehandlung und forderten eine Lockerung der Kriterien für Mutterschaftsurlaub für alle Frauen, standen der Vorlage also eher ablehnend entgegen. Verschiedene Frauenverbände (AllianceF, SKG und SVF) begrüssten die Vorlage zwar, verlangten aber weitere Flexibilisierungen hinsichtlich zeitlicher Gestaltung des Mutterschaftsurlaubs generell und einen Verzicht auf die Ausnahme hinsichtlich Stellvertretungsregelung. Es könne bei Kommissionssitzungen, die häufig Stellvertretungsregelungen kennen, wichtig sein, persönlich anwesend zu sein.
Die SPK-SR beschloss aufgrund der Vernehmlassungsresultate, an der ursprünglichen Lösung festzuhalten und lediglich die Teilnahme an Kommissions- und Plenarsitzungen zu regeln, im Falle von möglichen Stellvertretungslösungen aber keine Ausnahmen zu machen. Die Vorlage geht in die parlamentarische Beratung.

Mutterschaft und Parlamentsmandat (Kt.Iv. 19.311, Kt.Iv.20.313, Kt.Iv.20.323 und Kt.Iv.21.311)
Dossier: Vereinbarkeit der Parlamentsarbeit mit Familie und Beruf
Dossier: Frauenanteil im Parlament

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Zusammenfassung
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Ausbauschritt 2023 für die Nationalstrassen (BRG 23.032)

Mit dem Ziel, einer Überlastung der Nationalstrassen entgegenzuwirken, präsentierte der Bundesrat im Februar 2023 eine mehrteilige Botschaft für den Unterhalt und den Ausbau des Nationalstrassennetzes. In einem ersten Teil beantragte der Bundesrat Anpassungen am bestehenden Nationalstrassennetz sowie finanzielle Mittel für dessen Unterhalt und Betrieb (Zahlungsrahmen Nationalstrassen 2024-2027). Umstrittener war der zweite Teil der Botschaft, der im Rahmen des Ausbauschritts 2023 für die Nationalstrassen fünf neue Ausbauprojekte vorsah. Bereits in den Ratsdebatten gab dieser Ausbauschritt Anlass zu Diskussionen. Mit Unterstützung durch die drei grossen bürgerlichen Fraktionen stellten sich aber schliesslich beide Ratskammern hinter die Vorlage und erhöhten die Zahl der Ausbauprojekte auf sechs und den für den Ausbauschritt benötigten Kredit von CHF 4.4 Mrd. auf CHF 5.3 Mrd. Gegen den Ausbauschritt ergriffen der VCS und der Verein umverkehR – auch unterstützt von den Grünen, der SP und der GLP – das Referendum. Sie kritisierten insbesondere, dass die Ausbauprojekte schlussendlich zu mehr Verkehr führen und einer nachhaltigen Mobilität im Weg stehen würden. Im November 2024 gelangte die Vorlage zur Abstimmung, wo sie mit einem Ja-Stimmenanteil von 47.3 Prozent abgelehnt wurde.

Chronologie
Bundesrätliche Botschaft
Beratung im Nationalrat
Beratung im Ständerat; Nationalrat bereinigt Differenz; Schlussabstimmungen
Zustandekommen des fakultativen Referendums


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Résumé
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Étape d'aménagement 2023 des routes nationales (MCF 23.032)
(Traduction: Chloé Magnin)

Dans le but de lutter contre une surcharge des routes nationales, le Conseil fédéral a présenté en février 2023 un message en plusieurs parties sur l'entretien et l'aménagement du réseau des routes nationales. Dans une première partie, le Conseil fédéral a proposé des adaptations du réseau des routes nationales existant ainsi que des moyens financiers pour son entretien et son exploitation (plafond des dépenses pour les routes nationales 2024-2027). La deuxième partie du message, qui prévoyait cinq nouveaux projets d'aménagement dans le cadre de l'étape d'aménagement 2023 des routes nationales, était plus controversée. Cette étape d'aménagement avait déjà donné lieu à des discussions lors des débats en chambres. Avec le soutien des trois grandes fractions bourgeoises, les deux chambres du Parlement se sont finalement ralliées au projet et ont augmenté le nombre de projets d'aménagement à six et le crédit nécessaire pour l'étape d'aménagement de CHF 4.4 milliards à CHF 5.3 milliards. L'ATE et l'association actif-trafiC ont lancé un référendum contre l'étape d'aménagement, avec le soutien des Vert-e-s, du PS et du PVL. Ils ont notamment critiqué le fait que les projets d'extension conduiraient finalement à une augmentation du trafic et feraient obstacle à une mobilité durable. En novembre 2024, le projet a été soumis au vote et a été rejeté avec 47.3 pour cent de « oui ».


Chronologie
Message du Conseil fédéral
Délibérations au Conseil national
Délibérations au Conseil des Etats ; le Conseil national élimine la divergence ; votes finaux
Aboutissement du référendum facultatif
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Ausbauschritt 2023 STEP Nationalstrassen (BRG 23.032)

Jahresrückblick 2022: Parteien

Die Parteien als wichtige politische Akteure werden in der Öffentlichkeit besonders stark im Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen wahrgenommen. Mit den Bundesratsersatzwahlen vom Dezember 2022 schnellte insbesondere die Medienpräsenz der SVP und der SP, in geringerem Mass auch jene der Grünen in die Höhe (siehe Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse 2022 im Anhang).
Die SVP hatte dabei den zurücktretenden Ueli Maurer zu ersetzen. Zu reden gab dabei, dass die in den letzten Jahrzehnten tonangebende Zürcher Kantonalsektion erst nach längerer Suche überhaupt eine Kandidatur präsentieren konnte (alt Nationalrat Hans-Ueli Vogt), während die Berner Sektion mit Nationalrat Albert Rösti und Ständerat Werner Salzmann gleich zwei Kandidaten ins Rennen schicken konnte. Relativ früh zeichnete sich ab, dass es anders als bei früheren Bundesratswahlen bei der SVP zu keiner Zerreissprobe und allfälligen Parteiausschlüssen kommen würde, da die anderen Fraktionen keine Ambitionen erkennen liessen, eine Person ausserhalb des offiziellen SVP-Tickets zu wählen, für das die SVP-Fraktion letztlich Vogt und Rösti auswählte. Schliesslich erhielt die SVP mit Albert Rösti einen Bundesrat, der als linientreu und gleichzeitig umgänglich im Ton gilt.
Die SP wiederum hatte nach dem überraschenden Rücktritt von Simonetta Sommaruga nur wenig Zeit für die Nominierung ihrer Kandidaturen. Für gewisse Turbulenzen sorgte hier der von der Parteispitze rasch und offensiv kommunizierte Antrag an die Fraktion, sich auf Frauenkandidaturen zu beschränken. Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) rebellierte zunächst dagegen und gab seine eigene Kandidatur bekannt, zog diese aber wieder zurück, nachdem die SP-Fraktion dem Antrag der Parteispitze deutlich zugestimmt hatte. Mit einer «Roadshow» der Kandidatinnen in verschiedenen Landesteilen versuchte die SP trotz der knappen Zeit noch vom Schaufenstereffekt der Bundesratswahlen zu profitieren. Aufs Ticket setzte die Fraktion schliesslich die beiden Ständerätinnen und ehemaligen Regierungsrätinnen Eva Herzog (BS), die Mitglied der SP-Reformplattform ist und eher dem rechten Parteiflügel zugerechnet wird, und Elisabeth Baume-Schneider (JU), die als umgänglicher und weiter links stehend gilt. Im Parlament gingen in den ersten Wahlgängen überraschend viele Stimmen an den nicht auf dem Ticket stehenden Jositsch, bevor schliesslich Baume-Schneider den Vorzug vor Herzog erhielt. Wenig erbaut zeigte sich die SP von der anschliessenden Departementsverteilung, bei der Baume-Schneider das EJPD zugeteilt und Alain Berset ein angeblich gewünschter Wechsel aus dem EDI verwehrt wurde.
Dass weder die SVP noch die SP um ihre zweiten Bundesratssitze bangen mussten, hatte auch damit zu tun, dass sich die Grünen, die bei den letzten Gesamterneuerungswahlen noch mit einer Sprengkandidatur angetreten waren, selbst früh aus dem Rennen nahmen. Manche Beobachterinnen und Beobachter warfen den Grünen deswegen Harmlosigkeit und mangelnden Machtinstinkt vor. Die Grünen argumentierten dagegen, dass ein Angriff auf den SP-Sitz dem rot-grünen Lager keine Stärkung bringen würde und ein Angriff auf den SVP-Sitz aussichtslos gewesen wäre, weil das «Machtkartell» der bisherigen Bundesratsparteien keine Sitzverschiebungen wolle.

Alle 2022 durchgeführten kantonalen Wahlen wurden von den Medien auch als Tests für den Formstand der Parteien im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023 interpretiert. Die grossen Zwischenbilanzen, die im März nach den kantonalen Wahlen in Bern, der Waadt, Obwalden und Nidwalden gezogen wurden, bestätigten sich im Wesentlichen auch in den folgenden Glarner und Zuger Wahlen (allerdings nicht in Graubünden, das wegen einem Wechsel des Wahlsystems jedoch einen Sonderfall darstellt): Die «grüne Welle» rollte weiter, zumal die Grünen und noch stärker die GLP fast durchwegs Zugewinne verbuchen konnten. Demgegenüber büssten alle vier Bundesratsparteien Stimmenanteile ein, am deutlichsten die SP. Spekulationen über Gewinne und Verluste bei den nationalen Wahlen und mögliche Auswirkungen für die Sitzverteilung im Bundesrat sind freilich zu relativieren, weil sich Themen- und Parteienkonjunktur bis im Oktober 2023 noch deutlich verändern können und sich kantonale Wahlergebnisse aus mehreren Gründen nicht einfach auf die nationale Ebene übertragen lassen.

Misst man den Rückhalt der Parteien an ihrem Erfolg in den Volksabstimmungen, so ergibt sich ein etwas anderes Bild: Am häufigsten – nämlich bei 8 von 11 Abstimmungsvorlagen – stand dieses Jahr die EVP mit ihren Parolen auf der Siegerseite, gefolgt von EDU, FDP, GLP und Mitte (je 7). Seltener jubeln konnten die Parteien an den linken und rechten Polen des Spektrums (Grüne, PdA, SP und SVP: je 6). Freilich ist nicht jede Abstimmungsvorlage für jede Partei gleich wichtig. So war etwa für die SP das knappe Ja zur AHV-21-Reform mit der Frauenrentenaltererhöhung besonders schmerzhaft, die beiden Nein zu den Teilabschaffungen von Stempel- und Verrechnungssteuer hingegen besonders erfreulich. Für FDP und SVP war es gerade umgekehrt, daneben war für sie auch die Ablehnung des Medienpakets ein bedeutender Erfolg.

Mit Blick auf ihre Mitgliederzahlen sahen sich derweil fast alle grösseren Parteien im Aufwind: GLP, Grüne, Mitte, SP und SVP meldeten im Vergleich zu 2020 Mitgliederzuwächse im vierstelligen Bereich, die FDP hatte keine Informationen zu ihrer aktuellen Mitgliederentwicklung. Ein Grund für die vermehrte Hinwendung zu den Parteien könnte sein, dass die stark alltagsrelevante Covid-19-Pandemie, die intensivierte Diskussion um den Klimawandel und aussergewöhnlich intensive Abstimmungskämpfe etwa zur Konzernverantwortungsinitiative im November 2020 und zu den beiden Covid-19-Gesetzesvorlagen im Juni und im November 2021 viele Bürgerinnen und Bürger stärker politisiert haben.

Das Jahr brachte in der Schweizer Parteienlandschaft auch einige strukturelle Veränderungen. So ist mit der Gründung einer Kantonalsektion in Uri die GLP nun erstmals in sämtlichen Kantonen präsent. Bei der BDP fand zum Jahresbeginn der umgekehrte Weg seinen Abschluss: Am 1. Januar 2022 hörten die letzten beiden BDP-Kantonalsektionen auf zu existieren, nachdem die Partei auf nationaler Ebene schon ein Jahr davor in der Mitte aufgegangen war. Ganz aufgelöst wurde sodann die Partei national orientierter Schweizer (Pnos), die als parteipolitischer Arm der rechtsextremen Szene in der Schweiz gegolten hatte. Sie war im Parteiensystem nie über eine marginale Rolle hinausgekommen. Ihre Auflösung bedeutet allerdings nicht das Aussterben rechtsextremer Ideologien im Land, sondern lediglich das – vorläufige – Ende der parteipolitischen Aktionsform des Milieus.

Nachdem der Bundesrat im zu Ende gehenden Jahr das Gesetz und eine konkretisierende Verordnung zur Transparenz der Politikfinanzierung in Kraft gesetzt hat, werden sich die Parteien im neuen Jahr erstmals an die entsprechenden Regeln halten müssen. Die Parteien, die in der Bundesversammlung vertreten sind, haben unter anderem ihre Gesamteinnahmen sowie Zuwendungen von über CHF 15'000 offenzulegen.

Jahresrückblick 2022: Parteien
Dossier: Jahresrückblick 2022

Im Kanton Glarus verloren die Grünen Ende 2022 zwei Aushängeschilder an die GLP: Bloss ein halbes Jahr nach den Landratswahlen traten die Landrätinnen Priska Müller Wahl und Nadine Landolt Rüegg zur GLP über. Als Begründung nannten sie an einer Medienkonferenz «unterschiedliche Ansichten betreffend Organisation, Ressourceneinsatz und demokratischen Entscheiden», ohne weiter ins Detail gehen zu wollen. Inhaltliche Differenzen seien jedenfalls nicht ausschlaggebend gewesen, wie auch die Grünen in ihrer Stellungnahme betonten. Die Kantonalpartei erklärte, dass die beiden altgedienten Ländrätinnen «offenbar den Generationenwechsel, der mit dem neuen Vorstand eingeleitet werden konnte, und den damit verbundenen neuen und pragmatischen Stil nicht mittragen wollten».
Im Glarner Kontext war der Schritt insofern ein Novum, als damit erstmals in dem Kanton grüne Amtsträgerinnen zur GLP wechselten: Anders als in anderen Kantonen war die Glarner GLP 2013 nicht als Abspaltung der Grünen gegründet worden, sondern durch «Christlichsoziale, die in der CVP offenbar keine Zukunft mehr sahen», wie die Glarner Nachrichten schrieben; auch danach sei es «bis jetzt nicht zu Übertritten von grünen Schwergewichten gekommen».

Die Landratsfraktion der Grünen schrumpfte mit dem Doppelwechsel von 8 auf 6 Mitglieder, die Vertretung der GLP wuchs hingegen von 3 auf 5. Die Glarner Grünliberalen konnten damit erstmals eine eigene Fraktion bilden, nachdem sie bei den Wahlen 2022 ihr erklärtes Ziel, Fraktionsstärke zu erreichen, noch verpasst und sogar einen Sitz eingebüsst hatten.
Mit dem Entstehen der neuen Fraktion hatte das Glarner Kantonsparlament zu entscheiden, wie mit zwei widersprüchlichen Vorgaben der Landratsverordnung umzugehen sei: Diese schreibt einerseits vor, dass in jeder Kommission jede Fraktion mit mindestens einem Sitz vertreten sein soll, andererseits sehen die Regeln eine Besetzung der Kommissionssitze lediglich zu Legislaturbeginn vor. Eine knappe Landratsmehrheit lehnte eine vorgezogene Neuverteilung der Kommissionssitze schliesslich ab; die Nein-Stimmen kamen von der SVP und der FDP, welche bei einer Neuverteilung Mandate hätten abgeben müssen. Damit blieben bis zum Ende der Legislatur 2026 zwei Kommissionen ohne Vertretung der Grünliberalen und eine Kommission ohne Vertretung der Grünen, weil die beiden Parteiwechslerinnen ihre Kommissionssitze von den Grünen zu den Grünliberalen mitnahmen.

Parteiaustritte bei den Grünen

Im Dezember 2022 präsentierte die WBK-NR ihren Entwurf zur Überführung der Anstossfinanzierung der ausserfamiliären Kinderbetreuung in eine zeitgemässe Lösung, der sich in nicht unwesentlichen Punkten vom zuvor in die Vernehmlassung geschickten Vorentwurf unterschied.
Insgesamt 275 Stellungnahmen waren in der Vernehmlassung eingegangen, die grosse Mehrheit davon fiel positiv aus. So unterstützten 23 Kantone den Vorentwurf, ebenso wie acht von zehn stellungnehmenden Wirtschaftsverbänden – darunter GastroSuisse, SGB und Travail.Suisse – und acht Parteien – darunter die SP, die Grünen, die GLP und die Mitte. Abgelehnt wurde die Vorlage von der SVP und der FDP; die FDP-Frauen sprachen sich hingegen für den Vorentwurf aus. Bei den Wirtschaftsverbänden äusserte economiesuisse trotz Unterstützung der Vorlage erhebliche Vorbehalte, während sich der SGV gänzlich ablehnend zur Vorlage positionierte. Die Befürwortenden begrüssten grundsätzlich, dass das seit 2003 bestehende Impulsprogramm in eine dauerhafte Lösung überführt werden soll, ebenso wie das stärkere Engagement durch den Bund. Ferner vertraten sie die Ansicht, die Vorlage verbessere die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf, wirke dem Fachkräftemangel entgegen und fördere die Chancengerechtigkeit für Kinder im Vorschulalter. Die gegnerischen Stimmen, darunter die drei ablehnenden Kantone Bern, Graubünden und Zug, sahen durch den Vorentwurf die Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen verletzt. In eine ähnliche Stossrichtung gingen die Bedenken des SGV sowie der SVP und der FDP. Anders beurteilten dies die meisten Kantone und die SODK, ebenso wie die für den Vorentwurf zuständige WBK-NR, die die neue Rolle des Bundes nicht nur mit Rückgriff auf die in Art. 116 Abs. 1 BV erwähnte Unterstützungskompetenz, sondern darüber hinaus mit Bezug auf Art. 110 Abs. 1 Bst. a BV (Arbeitnehmendenschutz) und Art. 8 Abs. 3 BV (Gleichstellung von Mann und Frau) legitimierte. Die SVP vertrat zusätzlich die Ansicht, dass die Vorlage die Wahlfreiheit der Eltern, die ihre Kinder nicht extern betreuen lassen wollen, einschränke. Economiesuisse und der SGV sorgten sich auch um die Kosten, insbesondere verbunden mit der offenen Frage der (Gegen-)Finanzierung.
Aufgrund der im Vernehmlassungsverfahren eingegangenen Rückmeldungen passte die WBK-NR ihren Entwurf im Vergleich zum Vorentwurf in zwei Punkten an. Erstens verlangte der Entwurf neu für jeden Kanton während der ersten vier Jahre eine Bundesbeteiligung von 20 Prozent an den durchschnittlichen Betreuungskosten der Eltern. Bei unzulänglichem finanziellen Engagement der Kantone könnte der Betrag daraufhin auf bis zu 10 Prozent der Betreuungskosten gekürzt werden. Im Vorentwurf hatte die Kommission eine umgekehrte Lösung vorgeschlagen, wonach der Bund zu Beginn einen Sockelbeitrag von 10 Prozent entrichtet hätte. Kantone mit vergleichsweise hohem finanziellen Engagement hätten in der Folge noch einen Zusatzbeitrag (+5% oder +10%) erhalten können. Die zweite Änderung im Vergleich zum Vorentwurf betraf die Höhe des Verpflichtungskredites zur Unterstützung von Programmen zur Schliessung der Angebotslücken in der familienexternen Betreuung. Während der Vorentwurf für die ersten vier Jahre hierfür insgesamt einen Betrag von CHF 160 Mio. bereitstellen wollte, wurde dieser Betrag im Entwurf auf CHF 240 Mio. erhöht. Dies, nachdem diverse Vernehmlassungsteilnehmende bemängelt hatten, dass zusätzliches Gewicht auf die Qualitätssicherung und -entwicklung gelegt werden sollte. Mit diesen Änderungen versehen genehmigte die Kommission den Entwurf in der Gesamtabstimmung mit 17 zu 7 Stimmen bei einer Enthaltung. Dass die Diskussion um die Vorlage damit noch lange nicht abgeschlossen sein würde, liessen bereits die zahlreichen Anträge diverser Kommissionsminderheiten erahnen, die die WBK-NR in ihrem Bericht und teilweise bereits in ihrer Medienmitteilung aufführte.

Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung (Pa.Iv. 21.403)

Die Jungen Grünliberalen Schweiz stellten im Oktober 2022 ihr Präsidium personell und organisatorisch teilweise neu auf: Anstelle der nach zweijähriger Amtszeit zurücktretenden Co-Präsidentin Virginie Cavalli (VD) wurden Jeremy Borel (GE) und Maya Tharian (ZH) neu als Vizepräsident respektive Vizepräsidentin gewählt. Tobias Vögeli (BE), der bereits seit 2018 als Co-Präsident der Jungpartei amtierte, wurde nunmehr alleiniger Präsident.

JGLP Präsidium

Im Oktober 2022 veröffentlichte der Bundesrat einen Ergebnisbericht zur Vernehmlassung eines Vorentwurfs zur Änderung des AIG. Die Gesetzesänderung beabsichtigt die Einführung erleichterter Zulassungsbedingungen in den Arbeitsmarkt für Personen ohne Schweizer Pass aber mit Schweizer Hochschulabschluss. 23 von 25 stellungnehmenden Kantonen stimmten dem Entwurf zu, während sich lediglich der Kanton Zug dagegen positionierte und der Kanton Bern der Vorlage nur unter der Bedingung Unterstützung zusagte, dass die Zulassung und der Aufenthalt tatsächlich an die Erwerbstätigkeit geknüpft werde. Der Kanton Zug bemängelte, dass die beabsichtigte Gesetzesänderung eine zu breite Bevölkerungsgruppe umfasse. Die FDP, die GLP und die Mitte unterstützten den Gesetzesentwurf vollends, die SP lediglich im Grundsatz und die SVP sprach sich vehement dagegen aus, da dadurch die Nettozuwanderung erhöht werden würde. Die SP war der Ansicht, dass die Hürden im vorliegenden Entwurf zu hoch gefasst seien und nicht nur Arbeitnehmende mit Hochschulabschluss berücksichtigt werden sollten. Weiter äusserten auch Dachverbände der Wirtschaft, namentlich der SAV, der SGV, der SGB und economiesuisse, Unterstützung für den Vernehmlassungsentwurf. Für Travail.Suisse fehlte hingegen in der Vorlage eine Einschätzung, welchen Einfluss die Gesetzesänderung in Zukunft auf den Schweizer Arbeitsmarkt haben könnte. Daneben bekundeten 32 interessierte Kreise Interesse an der Vorlage und begrüssten diese – darunter Organisationen aus dem Hochschul- und Wirtschaftsbereich und dem Gastgewerbe.
Obschon ein Grossteil der Vernehmlassungsteilnehmenden die Vorlage also im Grunde unterstützte, wurde Kritik am Entwurf geäussert. Während eine Reihe von Teilnehmenden begrüsste, dass die Motion Dobler (fdp, SG; Mo. 17.3067) im Rahmen einer Änderung des AIG durchgesetzt werde, wünschte sich die FDP angesichts der zeitlichen Dringlichkeit lieber eine Umsetzung auf Verordnungsstufe. Unter anderem äusserte der SGB Bedenken, dass die Schweiz mit entsprechenden Bestimmungen ihren Status als «Brain-Drain-Profiteurin» weiter verstärken könnte und wünschte sich eine verstärkte Zusammenarbeit mit von Brain-Drain betroffenen Staaten sowie entsprechende bilaterale Austauschprogramme. Die SVP dagegen forderte, dass diese Personengruppe weiterhin in das Gesamtkontingent an erteilten Aufenthaltsbewilligungen fallen solle, ausländische Studierende mindestens die Hälfte der Kosten für das Studium selber tragen müssen und die erleichterte Zulassung zum Schweizer Arbeitsmarkt ausschliesslich Absolvierenden aus dem MINT-Bereich offen stehen solle. Tourismus- und Gastgewerbeorganisationen sowie Hotelfachschulen schliesslich schlugen vor, den Geltungsbereich der Änderung auf «Ausländerinnen und Ausländern mit Schweizer Abschluss der Tertiärstufe» auszuweiten, statt sich lediglich auf Hochschulabsolventinnen und -absolventen zu konzentrieren.

Erleichterte Zulassung zum Arbeitsmarkt für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss (BRG 22.067)
Dossier: Zulassung für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss

Ende April 2022 kam das Referendum gegen die AHV21 zustande. Damit wurde an der Urne nicht nur über die Mehrwertsteuererhöhung um 0.4 Prozentpunkte respektive 0.1 Prozentpunkte und somit über eine Zusatzfinanzierung für die AHV von CHF 12.4 Mrd. bis 2032 abgestimmt – diese musste als Verfassungsänderung sowieso der Stimmbürgerschaft vorgelegt werden –, sondern auch über die übrigen Massnahmen des Reformprojekts. Dieses sah vor, das Rentenalter der Frauen in vier Schritten (2024 bis 2027) demjenigen der Männer anzupassen, wodurch die AHV bis 2032 CHF 9 Mrd. weniger ausgeben respektive mehr einnehmen sollte als bisher. Im Gegenzug sollten die ersten neun betroffenen Frauenjahrgänge Zuschläge zu ihren Renten oder günstigere Bedingungen beim Rentenvorbezug erhalten, die insgesamt CHF 2.8 Mrd. kosten sollten. Allgemein sollte der Start des Rentenbezugs flexibilisiert und neu zwischen 63 und 70 Jahren möglich werden – mit entsprechenden Abzügen und (teilweise) Gutschriften bei früherem oder späterem Bezug –, wobei die Rente nicht mehr nur vollständig, sondern auch teilweise bezogen werden kann. Dies würde bis 2032 etwa CHF 1.3 Mrd. kosten. Insgesamt könnten die AHV-Ausgaben bis ins Jahr 2032 um insgesamt CHF 4.9 Mrd. gesenkt werden.

Die Gegnerinnen und Gegner der AHV21-Reform wehrten sich vor allem gegen die Finanzierung der Reform auf dem «Buckel der Frauen» (Tages-Anzeiger), also durch die Erhöhung des Frauenrentenalters. Dadurch würde den Frauen faktisch die Rente gekürzt – ein Jahr weniger Rente entspreche CHF 26'000, rechnete das Referendumskomitee vor. Diese Reduktion würde noch nicht einmal für diejenigen Jahrgänge, welche Kompensationsmassnahmen erhielten, vollständig ausgeglichen. Besonders störend daran sei, dass Frauen noch immer einen deutlich geringeren Lohn für ihre Arbeit und einen Drittel weniger Rente als die Männer erhielten, während sie gleichzeitig sehr viel mehr unbezahlte Arbeit leisteten. Darüber hinaus erachtete die Gegnerschaft die Erhöhung des Frauenrentenalters auch als ersten Schritt hin zum Rentenalter 67, das sie jedoch unter anderem mit Verweis auf die schlechten Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitnehmender sowie auf die Erhöhung der Langzeitarbeitslosigkeit und der Sozialhilfequote ablehnte. Schliesslich erachteten die Gegnerinnen und Gegner auch die aktuelle Situation der AHV als weniger gravierend als die Befürwortenden der Revision: Die AHV sei solide, werde aber immer durch dramatische Prognosen schlechtgeredet – diese seien bisher jedoch nie eingetroffen. Die Nein-Parole zu beiden AHV-Vorlagen gaben die SP, die Grünen, die PdA sowie die SD aus, sie wurden von den Gewerkschaften unterstützt.

Die Befürwortenden der Reform betonten, dass die AHV struktureller Reformen bedürfe, zumal sie ansonsten bereits in wenigen Jahren mehr ausgeben als einnehmen werde. Die AHV21-Reform führe durch Massnahmen sowohl auf Einnahmeseite – durch die Mehrwertsteuererhöhung – als auch auf Ausgabenseite – durch die Erhöhung des Frauenrentenalters – zu einer Verbesserung der AHV-Finanzen. Bezüglich des Arguments der Gegnerschaft, dass vor allem die Frauen für die Reform aufkommen müssten, verwiesen die Befürwortenden auf die «substanziellen Kompensationen», welche die Frauen der Übergangsgeneration erhielten. Zudem sei eine Rentenaltererhöhung der Frauen auf 65 Jahre gerechtfertigt, da sie einerseits als Teil der Gleichstellung erachtet werden könne und da die grossen Rentenunterschiede andererseits nicht aus der AHV, sondern aus der beruflichen Vorsorge stammten. Im Gegenzug forderten jedoch auch verschiedene Mitglieder der Pro-Komitees Verbesserungen für die Frauen in der zweiten Säule, vor allem beim Koordinationsabzug, welcher gesenkt werden sollte. Die Ja-Parole zu beiden Vorlagen gaben die SVP, die FDP, die Mitte, die GLP, die EVP und die EDU sowie etwa Economiesuisse, der Arbeitgeberverband, der Gewerbeverband und der Bauernverband aus.

In der medialen Berichterstattung stand vor allem die Frage nach den Auswirkungen für die Frauen sowie der Fairness ihnen gegenüber im Mittelpunkt. Im Zentrum des Interesses stand dabei der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen, Alliance f. So zeigten sich die im Verband organisierten Frauen öffentlich gespalten: Selbst der Vorstand des Verbands bestand aus Befürworterinnen und Gegnerinnen der AHV21. Alliance f sei in einer «delikate[n] Ausgangslage», betonten folglich etwa die AZ-Medien. Als Konsequenz gab der Verband Stimmfreigabe heraus und schuf zwei Frauenallianzkomitees, ein befürwortendes und ein ablehnendes. Damit wolle man sich trotz unterschiedlicher Positionen in die Diskussion einbringen und somit verhindern, dass die Männer die Debatte um das Frauenrentenalter dominierten, betonte etwa Co-Präsidentin von Alliance f und Präsidentin des befürwortenden Frauen-Komitees, Kathrin Bertschy (glp, BE).

Zusätzliche Aufmerksamkeit erhielt die AHV21-Abstimmung Ende Mai, als das BSV die neuen Finanzperspektiven der AHV herausgab. So war der Bundesrat in der Botschaft zur AHV21 im August 2019 von einem negativen Betriebsergebnis der AHV im Jahr 2030 von CHF 4.6. Mrd. ausgegangen. Im Juni 2021 hatte das BSV für 2030 ein Defizit von CHF 3.7 Mrd. prognostiziert, in den neusten Finanzperspektiven Ende Mai 2022 war hingegen nur noch von einem Defizit von CHF 1.8 Mrd. die Rede. Das BSV erklärte diese Veränderungen mit dem guten Betriebsergebnis des AHV-Ausgleichsfonds 2021 sowie mit einem stärkeren Beschäftigungs- und Reallohnwachstum als erwartet. Diese Entwicklung zeige auf, dass die AHV in einer «systematische[n] Angstmacherei zulasten der Bevölkerung» schlechtgeredet werde, liess der SGB verlauten. Die NZZ erachtete diese Zahlen trotz der Korrekturen noch immer als schlecht, «die AHV [werde] so oder so ins Minus» rutschen.

Im Juni 2022 entschied die SGK-SR, dass ihr Entwurf zur Pensionskassenreform BVG21 noch nicht reif für die Behandlung in der Herbstsession 2022 sei. Die Gegnerinnen und Gegner der AHV21-Reform sahen darin einen Versuch, kritische Debatten zur BVG21-Reform vor der Abstimmung über die AHV21 zu verhindern. Doch auch Befürwortende der AHV21-Reform störten sich an diesem Vorgehen der Kommission, zumal man bei einer Behandlung der BVG21-Reform den Frauen hätte zeigen wollen, dass man als Ausgleich zur Rentenaltererhöhung wie mehrfach versprochen ihre Pensionskassenrenten erhöhen werde.

Zu medialen Diskussionen führten in der Folge auch die Vorumfragen. Bereits Anfang Mai berichtete die SonntagsZeitung mit Verweis auf eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Demoscope, welche gemäss SonntagsBlick von den Befürwortenden in Auftrag gegeben worden war, dass sich 62 Prozent der SP-Sympathisierenden und 59 Prozent der Sympathisierenden der Grünen für die AHV21 aussprechen wollten. Insgesamt machte die Studie eine Zustimmung zur AHV21 von 55 Prozent aus. Darob publizierte jedoch der SGB die Resultate einer eigenen, zuvor beim Forschungsinstitut Sotomo in Auftrag gegebenen Studie, gemäss welcher die Sympathisierenden der SP die AHV21 zu 63 Prozent ablehnten, während der durchschnittliche Ja-Stimmenanteil über alle Parteien hinweg bei 48 Prozent zu liegen kam. Die Diskussion darüber, wie verlässlich Studien sind, welche von den Befürwortenden respektive der Gegnerschaft einer Vorlage in Auftrag gegeben werden, währte in den Medien jedoch nicht lange. Ab August konzentrierte sich die mediale Debatte auf die Vorumfragen von SRG/gfs.bern und Tamedia/Leewas, welche auf eine mehr oder weniger deutliche Annahme der zwei Vorlagen hindeuteten (Mehrwertsteuererhöhung: zwischen 54 und 65 Prozent, AHVG: zwischen 52 und 64 Prozent). Vor allem zeichnete sich in den Vorumfragen aber bereits ein deutlicher Geschlechtergraben ab, so sprachen sich beispielsweise Anfang August 2022 in der ersten Tamedia-Umfrage 71 Prozent der Männer für die Änderung des AHVG und somit für die Erhöhung des Frauenrentenalters aus, während diese nur 36 Prozent der Frauen befürworteten.

Hatten die Vorumfragen letztlich doch eine relativ deutliche Annahme beider AHV21-Vorlagen in Aussicht gestellt, wurde es am Abstimmungssonntag für die Gesetzesänderung sehr eng: Mit 50.55 Prozent Ja-Stimmen und gut 31'000 Stimmen Unterschied sprach sich die Stimmbürgerschaft für Annahme der Reform aus. Deutlicher fiel das Verdikt für die Zusatzfinanzierung über eine Mehrwertsteuererhöhung aus (55.07%).


Abstimmung vom 25. September 2022

Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; AHV21)
Beteiligung: 52.2%
Ja: 1'442'591 Stimmen (50.5%)
Nein: 1'411'396 Stimmen (49.5%)

Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
Beteiligung: 52.2%
Ja: 1'570'813 Stimmen (55.1%)
Nein: 1'281'447 Stimmen (44.9%)

Parolen:
-Ja: SVP, FDP, Mitte, GLP, EVP, EDU; Economiesuisse, SAV, SBV, SGV
-Nein: SP, GPS, PdA, SD; SGB, Travail.Suisse, VPOD
* in Klammern Anzahl abweichender Kantonalsektionen


«Männer haben Frauen überstimmt», titelte in der Folge der «Blick», von einem «eklatante[n] Geschlechtergraben, wie es ihn noch nie gegeben hat», sprach die WOZ. In der Tat zeigten verschiedene Nachbefragungen einen grossen Zustimmungsunterschied zwischen Frauen und Männern. In der Vox-Analyse lag die Zustimmung zur Gesetzesänderung bei den Frauen im Schnitt bei 38 Prozent, bei den Männern bei 64 Prozent – wobei die direktbetroffenen Frauen unter 65 Jahren der Vorlage nur mit 25 Prozent (18-39 Jährige) respektive mit 29 Prozent (40-64 Jährige) zustimmten, die Frauen im Rentenalter hingegen mit 63 Prozent. In der Folge kam es in Bern und anderen Städten zu Demonstrationen, in denen Teile der Gegnerinnen der Vorlage ihre Wut über das Ergebnis ausdrückten. In einer Rede zeigte sich Tamara Funiciello (sp, BE) gemäss Medien empört darüber, dass «alte, reiche Männer» entschieden hätten, dass «Kita-Mitarbeiterinnen, Nannys, Reinigungskräfte und Pflegefachfrauen» länger arbeiten müssten. Dies führte im Gegenzug zu Unmut bei Vertreterinnen und Vertretern der bürgerlichen Parteien, welche kritisierten, dass «die Linke» den Stimmentscheid nicht akzeptieren wolle. Zudem sprach Regine Sauter (fdp, ZH) Funiciello die Berechtigung ab, im Namen aller Frauen zu sprechen, zumal Frauen keine homogene Masse bildeten. Funiciello hingegen betonte gemäss Tages-Anzeiger, dass es «für Verbesserungen [...] den Druck von der Strasse und den Dialog im Bundeshaus» brauche.

Doch nicht nur zwischen den Geschlechtern, auch zwischen den Sprachregionen zeigten sich bereits am Abstimmungssonntag grosse Unterschiede. Sämtliche mehrheitlich romanischsprachigen Kantone lehnten die Reform ab, allen voran die Kantone Jura (29% Ja-Stimmen), Neuenburg (35%) und Genf (37%), während sich nur drei deutschsprachige Kantone mehrheitlich gegen die Reform des AHV-Gesetzes aussprachen (Basel-Stadt: 47% Zustimmung; Solothurn: 49.8%, Schaffhausen: 50.0%). Die höchste Zustimmung fand sich in den Kantonen Zug (65%), Nidwalden (65%) und Appenzell-Innerrhoden (64%). «Die Deutschschweiz sichert die AHV», bilanzierte folglich etwa die NZZ, während SGB-Präsident und Nationalrat Maillard (sp, VD) die Unterschiede zwischen den Sprachregionen kritisierte, neben dem Geschlechtergraben und dem Sprachgraben aber auch einen Einkommensgraben ausmachte. Diese Ergebnisse bestätigte später auch die Vox-Analyse, welche für Personen mit Haushaltseinkommen unter monatlich CHF 3'000 eine deutlich tiefere Zustimmung zur Gesetzesänderung ermittelte als für Personen mit höheren Haushaltseinkommen (unter CHF 3'000: 32%; CHF 3'000-5'000: 49%, CHF 5'000-9'000: 52%, CHF 9'000-11'000: 59%, CHF über 11'000: 60%). Dieselben Unterschiede waren jeweils auch bei der Mehrwertsteuererhöhung erkennbar, wenn auch in geringerem Ausmass.

Als Motive für ihren Stimmentscheid machte die Vox-Analyse bei den Befürwortenden die Notwendigkeit zur Stabilisierung der AHV aus – sowohl bei der Gesetzesänderung (41%) als auch bei der Mehrwertsteuererhöhung (64%) wurde dieser Punkt häufig genannt. Zusätzlich erachteten aber die Befürwortenden die Gesetzesänderung – also wohl vor allem die Rentenaltererhöhung – auch als Schritt hin zur Gleichberechtigung (45%). Die Gegnerinnen und Gegner erachteten sowohl die Gesetzesänderung als ungerecht (84%), insbesondere im Hinblick auf die Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern, als auch auf die Mehrwertsteuererhöhung (46%), die vor allem einkommensschwache Personen treffe und allgemein ein «schlechtes Finanzierungsmittel» (Vox-Analyse) darstelle.

Bereits am Tag nach der Volksabstimmung zur AHV21 schwenkte das mediale Interesse weg von der Reform der AHV hin zur BVG21-Reform. Denn nicht nur die Gegnerinnen und Gegner der AHV21-Reform, sondern auch weite Teile der Befürwortenden wiesen auf die Verpflichtung oder gar das «Versprechen» (AZ) hin, die mit dieser Annahme der Reform einhergingen: Im Gegenzug müsse das Bundesparlament die Benachteiligung der Frauen bei der Altersvorsorge im Rahmen der anstehenden BVG21-Reform korrigieren.

Reform «Stabilisierung der AHV (AHV 21)» (BRG 19.050)
Dossier: Erhöhung des Rentenalters
Dossier: Debatten um das Frauenrentenalter

Wie kann die institutionelle Krisenresistenz des Bundesrates verbessert werden? Diese Frage stellt die GLP-Fraktion dem Bundesrat, indem sie ihn mittels Postulat beauftragte, einen entsprechenden Bericht zu verfassen. Tiana Angelina Moser (glp, ZH) führte in der Herbstsession 2022 im Nationalrat aus, dass der Bundesrat nicht nur auf die Covid-19-Pandemie, sondern auch auf den Ausbruch des Ukraine-Krieges unvorbereitet gewesen sei. Es habe an Szenarien und vorbereiteten Massnahmen gefehlt, die man in Krisen rasch herbeiziehen könnte. Im Gegenteil habe der Bundesrat «orientierungslos» gewirkt und habe «erst auf Druck von aussen wieder Tritt» gefasst. Es brauche deshalb dringend eine «Gesamtstrategie des Führungsgremiums Bundesrat», so Moser. Die Ratsdebatte war nötig geworden, weil das vom Bundesrat eigentlich zur Annahme empfohlene Postulat von Gregor Rutz (svp, ZH) bekämpft worden war. Er teile zwar die Ansicht, dass der Bundesrat nicht vorbereitet gewesen sei, aber vorausschauendes Regieren könne nicht gesetzlich verordnet werden, sondern funktioniere nur, wenn «man die richtigen Leute in die Gremien» wähle. Das System funktioniere im Gegenteil selbst in einer Krise trotz eines schwachen Bundesrats sehr gut. Wenn man die Führung verbessern wolle, müsse man neue Leute wählen und nicht teure Berichte verfassen, schloss Rutz. Bundeskanzler Walter Thurnherr schliesslich wies darauf hin, dass der Bundesrat bereits daran sei, einen Bericht der Bundeskanzlei zum Krisenmanagement in der Covid-19-Pandemie umzusetzen, weshalb er das Postulat als ergänzenden Auftrag zur Annahme empfehle. Dieser Empfehlung kam eine 115 zu 47 Stimmen-Mehrheit (3 Enthaltungen) der Volksvertreterinnen und Volksvertreter nach. Einzig die geschlossen stimmende SVP-Fraktion (42 Stimmen), vier Mitglieder der Mitte-Fraktion sowie ein Mitglied der FDP-Fraktion lehnten das Postulat ab.

Institutionelle Krisenresistenz des Bundesrates (Po. 22.3343)
Dossier: Institutionelle Krisenresistenz des Bundesrats

Ergänzend zu den Massnahmen des ersten Massnahmenpakets schlug der Bundesrat im September 2022 in seiner Botschaft zum zweiten Massnahmenpaket zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen sieben Gesetzesänderungen, erneut basierend auf dem Bericht einer Expertengruppe von 2017, vor. Mit dem Ziel, die Kostenentwicklung in der OKP und der Prämien einzudämmen, sollten etwa Netzwerke zur koordinierten Versorgung als eigene Leistungserbringer definiert werden und die Kriterien für Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) differenziert geprüft werden können. Zwei Gesetzesänderungen betrafen neue Preismodelle mit Rabatten und Rückerstattungen zwischen den Zulassungsinhaberinnen der Arzneimittel und den Kostenträgerinnen und Behörden sowie die Ausnahme solcher Modelle aus dem Recht auf Zugang zu öffentlichen Dokumenten – üblicherweise verlangen die Zulassungsinhaberinnen Stillschweigen über die tatsächlichen Kosten und Rabatte. Schliesslich sollten auch Referenztarife für ausserkantonale Wahlbehandlungen festgelegt, eine Verpflichtung zur elektronischen Rechnungsübermittlung geschaffen sowie die Leistungen der Apothekerinnen und Apotheker zulasten der OKP angepasst werden.

Bei der Vernehmlassung, an der sich 328 Stellungnehmende, darunter alle Kantone, die GDK, neun politische Parteien und zahlreiche Verbände oder Organisationen beteiligten, gab es gemäss Botschaft viele kritische Äusserungen, wonach das Paket «zu umfassend, zu wenig ausgereift und (politisch) nicht umsetzbar» sei. Insbesondere die Leistungserbringenden, Gemeinden und Städte sowie Wirtschaftsvertretenden lehnten es ab, Zustimmung fand es hingegen bei den Kantonen, Konsumenten- und Patientenorganisationen, Versicherungen und bei verschiedenen politischen Parteien. Der Bundesrat nahm aufgrund der Rückmeldungen Änderungen an einigen Regelungen vor und strich die Verpflichtung zu einer Erstberatungsstelle – unter anderem in Hinblick auf die Ablehnung der Managed Care-Vorlage von 2012. Zudem sollte ursprünglich das gesamte zweite Massnahmenpaket als indirekter Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative dienen, im Anschluss an die Vernehmlassung entschied sich der Bundesrat jedoch, das anfänglich im zweiten Massnahmenpaket enthaltene Kostenziel separat als indirekter Gegenvorschlag vorzulegen.

Die Aargauer Zeitung zeigte sich von der bundesrätlichen Botschaft wenig begeistert, insbesondere in Anbetracht des grossen von Santésuisse prognostizierten Prämienanstiegs für das Jahr 2023. Das Paket bringe «nichts Neues» und kaum Einsparungen – zudem bestehe die Gefahr, dass das Parlament die Massnahmen zusätzlich abschwäche.

Zweites Massnahmenpaket zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen (BRG 22.062)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)

Im November 2021 hiess die SGK-NR den Vorentwurf zur Umsetzung einer parlamentarischen Initiative von Ulrich Giezendanner (svp, AG) «Sicherstellung der Blutversorgung und die Unentgeltlichkeit der Blutspende» einstimmig gut, nachdem sie einen Antrag, welcher ein Diskriminierungsverbot bei der Blutspende durchsetzen wollte, mit 7 zu 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen hatte.

Am 24. Februar 2022 wurde die Vernehmlassung über den Entwurf, der eine Änderung des Bundesgesetzes über Arzneimittel und Medizinprodukte vorsah, eröffnet. Insgesamt trafen 43 Stellungnahmen zum Vernehmlassungsentwurf ein. Der Grossteil der Kantone, die GDK, der SGB sowie die GLP, die Mitte und die SP unterstützten die Vorlage ohne spezifische Änderungsvorschläge, fügten jedoch Kommentare an. Bei den anderen Vernehmlassungsteilehmenden gab insbesondere die vorgeschlagene Unentgeltlichkeit der Blutspende zu reden. Der Kanton Zürich erachtete die geforderte Unentgeltlichkeit bei der Einfuhr von Blut und Blutprodukten aus dem Ausland als hindernd für die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl an Blutkonserven in der Schweiz. Auch die Blutspendeorganisationen wünschten sich Ausnahmen der Unentgeltlichkeit, unter anderem im Falle der Einfuhr von Blut mit seltenen Merkmalen zu Forschungszwecken. Die Kantone Basel-Landschaft und Thurgau schlugen vor, dass bei einem akuten Engpass Ausnahmen der Unentgeltlichkeit zum Zuge kommen sollten, also auch entgeltlich gespendete Blutkonserven eingeführt werden könnten. Bezüglich des Diskriminierungsverbots, erachtete es der Kanton Tessin nicht als nötig, die sexuelle Orientierung spezifisch zu erwähnen, da der heutige Ausschluss von Männern, welche Sex mit Männern haben (MSM), nicht durch deren sexuelle Orientierung, sondern durch das daraus potentiell entstehende HIV-Risikoverhalten gerechtfertigt werde. Der Kanton Waadt hielt fest, dass bei der vorgesehenen Änderung noch klarer aufgezeigt werden müsse, dass spezifische Sperrfristen für MSM abgeschafft werden würden und das Sexualverhalten einheitlich, und von der sexuellen Orientierung unabhängig, beurteilt werde. Als Eingrenzung des noch sehr breit gefassten Diskriminierungsverbots, schlugen die Grünen eine individuelle Beurteilung des Risikoverhaltens von Spenderinnen und Spendern, unabhängig von deren Geschlecht und sexueller Orientierung, vor. Auch die GLP und die Mitte kommentierten, dass das individuelle Risikoverhalten eines Individuums im Vordergrund zu stehen habe, brachten aber keine spezifischen Vorschläge zur Umsetzung ein. Diese Meinung teilten auch eine Reihe von LGBTQIA+-Organisationen. Die Blutspendeorganisationen warnten jedoch, dass ein allgemeines Diskriminierungsverbot in bestimmten Fällen die Patienten- und Produktsicherheit gefährden könne. Andere Teilnehmende der Vernehmlassung, so auch die Kantone Basel-Stadt und Zürich, empfanden die Anti-Diskriminierungsklausel in der Bundesverfassung als ausreichend und wollten darauf verzichten, das HMG entsprechend zu ergänzen. Die SVP wünschte sich, dass unter Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse der Ausschluss gewisser Personengruppen von der Blutspende weiterhin möglich bleibe. Schliesslich äusserten sich auch viele Vernehmlassungsteilnehmende zur geplanten Finanzhilfe zur Sicherstellung des sicheren Umgangs mit Blut. Blutspendeorganisationen sprachen sich für eine starke Verbindlichkeit bei der Förderung von Finanzhilfen aus; sie wollten aber auch Klarheit darüber, welche konkreten Leistungen der Bund unterstütze. FDP und SVP verlangten, dass diese Finanzierungshilfen nur im äussersten Notfall zum Zuge kommen sollten, währenddem der Kanton St. Gallen an der Effektivität finanzieller Unterstützung zur Verbesserung der Blutspende-Problematik zweifelte.
In Reaktion auf die Vernehmlassungsergebnisse entschied die SGK-NR im August 2022 ihren Entwurf in zwei Punkten anzupassen: Erstens sollten bei der Unentgeltlichkeit der Blutspende Ausnahmen möglich sein, zweitens solle der Ausschluss von der Blutspende am individuellen Risikoverhalten festgemacht und wissenschaftlich begründet werden.

Sicherstellung der Blutversorgung und Unentgeltlichkeit der Blutspende
Dossier: Blutspende

Im Juli 2022 schickte die RK-NR ihren Entwurf zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative Regazzi (mitte, TI) für eine Anpassung des Verzugszinssatzes des Bundes an die Marktzinsen in die Vernehmlassung. Der Entwurf enthielt zwei Möglichkeiten zur Umsetzung dieser Anpassung: Entweder soll der aktuelle Zinssatz durch einen vom Bundesrat jährlich festgelegten, an den Saron gebundenen und nach oben und unten begrenzten variablen Zinssatz ersetzt werden (Saron + 2 Prozentpunkte, begrenzt zwischen 2% und 15%) oder alternativ soll erneut ein fester Zinssatz in der Höhe von 3 Prozent (bisher: 5%) festgelegt werden. Eine Kommissionsminderheit lehnte den Entwurf ab, da er sich ob der «aktuellen Wirtschaftsentwicklung erübrigt» habe, wie dem Kommissionsbericht zu entnehmen war.

Während der Vernehmlassung gingen 38 Stellungnahmen ein, wobei sich zahlenmässig am meisten Teilnehmende für den Status quo (15 Kantone, GLP, 6 Organisationen, darunter HEV und SGV), gefolgt vom Vorschlag eines variablen Zinssatzes (9 Kantone, Mitte, FDP, SP, SVP, SGB) aussprachen. Kaum Zuspruch erhielt der fixe Zinssatz von 3 Prozent (1 Kanton und SBV plus allenfalls 3 Kantone), da das Finanzumfeld eine solche Reduktion nicht mehr rechtfertige, wie mehrfach argumentiert wurde. Der variable Zinssatz werde somit «von den politischen Parteien unterstützt (4 von 5), von den Kantonen (15 von 25) und der Wirtschaft (6 von 8) jedoch grösstenteils abgelehnt», wurde im Vernehmlassungsbericht erläutert. Kritisiert wurde der variable Zinssatz vor allem wegen des administrativen Aufwands, der Verankerung des fixen Zinssatzes in der Schweizer Rechtstradition sowie der Kosten für die Wirtschaftsakteure. Befürwortet wurde er hingegen aufgrund seiner regelmässigen Anpassung an den Marktzinssatz.

Im April 2023 entschied sich die RK-NR, eine Änderung des bisherigen Zinssatzes weiterzuverfolgen und schlug dem Parlament die Schaffung eines variablen Zinssatzes in der Höhe des SARON plus zwei Prozentpunkten vor.

Verzugszinssatz des Bundes. Anpassung an Marktzinsen (Pa.Iv. 16.470)