APS-Jahresrückblick 2022
Von Anja Heidelberger, Karel Ziehli und Marc Bühlmann
Wie geht die Schweizer Politik mit Krisen um? 2022 wird als (weiteres) Jahr in die Geschichte eingehen, das zahlreiche Antworten auf diese Frage lieferte. Nicht nur, weil die politische Aufarbeitung und die Folgen der Covid-19-Krise Zeit in Anspruch nahmen, sondern auch weil mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dem drohenden Energiemangel zwei neue akute Krisen politische Arbeit verursachten – neben dem «normalen Politikbetrieb», in dem ebenfalls zahlreiche zentrale Weichenstellungen anstanden.
Aufarbeitung und Folgen der Covid-19-Pandemie.
Droht nach zwei Jahren, in denen Covid-19 fast die gesamte Schweizer Politik dominierte, tatsächlich ein drittes Pandemiejahr? Und wird dieses womöglich gar noch schlimmer als die ersten zwei? Im Januar deutete zwar noch vieles auf eine Bestätigung dieser Befürchtungen hin, schnell wurde jedoch klar, dass die Pandemie an Schrecken verloren hatte. Entsprechend wurden zahlreiche Massnahmen zum Schutz vor Covid-19 gelockert und Ende März hob der Bundesrat auch die letzten Einschränkungen, welche die Schweizer Bürgerinnen und Bürger betrafen, auf.
In der Folge nahmen die parlamentarische und die mediale Aufmerksamkeit für die Pandemie zwar deutlich ab, wie auch unsere APS-Analysen zur Medien- und zur Geschäftskonjunktur zeigen. Covid-19 blieb aber aus verschiedenen Gründen Gegenstand politischer Verhandlungen. Einerseits ging es darum, sich mit der zwar schwächeren, aber weiterhin vorhandenen Bedrohung zu arrangieren. Andererseits standen einige Vorstösse zur parlamentarischen Beratung an, die im Höhepunkt der Pandemie eingereicht worden waren. So verlängerte die Regierung etwa erneut das Covid-19-Gesetz, um bis Juni 2024 weiterhin Instrumente gegen die Pandemie zur Verfügung zu haben. Auch über die Beschaffung der Impfdosen wurde im Jahr 2022 gestritten – noch heftiger als in den Vorjahren. Aufrechterhalten wurden zudem die zwangsweisen Covid-19-Tests bei Ausschaffungen.
Deutliche Spuren hinterliess Covid-19 im Bereich der Bundesfinanzen. Hier hatte die Pandemie bis Ende 2022 ein «Loch» von CHF 26 Mrd. in die Kasse gerissen. Vorschläge zum Schuldenabbau stiessen im Parlament auf hitzige Diskussionen. Finanzielle Auswirkungen der Pandemie waren unter anderem auch bei den Krankenkassenprämien 2023 spürbar.
2022 stand zudem im Zeichen erster politischer Aufarbeitung der Covid-19-Krise. So wurden verschiedene Vorstösse diskutiert, mit denen Bund und Parlament krisenresistenter gemacht werden sollten. Auch Vor- und Nachteile der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen wurden in diesem Zusammenhang dargelegt. Zudem hatte die Pandemie, aktuell aber auch der Ukraine-Krieg, eine gewisse Vulnerabilität hinsichtlich der Versorgungssicherheit in zahlreichen Bereichen aufgezeigt, insbesondere im medizinischen Bereich, etwa bei den Intensivstationen und den Medikamenten, aber auch im wirtschaftlichen Bereich, wo Pflichtlager und Massnahmen zur Verringerung der Abhängigkeit vom Ausland gefordert wurden.
Auswirkungen zeigte Covid-19 auch auf das politische Engagement: 2021 hatten zahlreiche Organisationen im Rahmen der Proteste gegen die Covid-19-Massnahmen grossen Zuspruch erhalten, diese verloren aber mit Abnahme der Virulenz der Pandemie ihr mobilisierendes Thema. Die inhaltlichen Neuausrichtungen, die die Protestbewegungen in der Folge vornahmen, gingen 2022 dann aber mit inneren Richtungsstreitigkeiten und Misserfolgen bei kantonalen Wahlen einher. Profiteure der Pandemie und der damit zusammenhängenden stärkeren Politisierung der Bevölkerung scheinen deshalb vielmehr die Parteien zu sein, deren Mitgliederzahlen seit der Pandemie deutlich angestiegen waren. Wie nachhaltig diese politische Mobilisierung ist, bleibt abzuwarten – die mittlere Beteiligung bei nationalen Abstimmungen, die 2021 ausserordentlich hoch war, nahm 2022 jedenfalls wieder deutlich ab (von 57.2% auf 45.9%).
Reaktionen auf den Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine
Ende Februar geschah, womit praktisch niemand gerechnet hatte: Russland begann einen Angriffskrieg auf die Ukraine. In der Schweiz löste der Krieg hitzige Diskussionen zur Ausrichtung der Aussen- und Neutralitätspolitik aus und beeinflusste einige innenpolitische Debatten und Entscheidungen. In der Folge löste die Aussenpolitik die Covid-19-Pandemie als Thema Nummer 1 der Schweizer Medien ab, wie Abbildung 1 der APS-Analyse 2022 der Parlamentsgeschäfte und Zeitungen verdeutlicht.
Nach grossem innen- und aussenpolitischem Druck übernahm der Bundesrat Ende Februar die von der EU beschlossenen Sanktionen gegen Russland und in der Folge auch alle Ausweitungen. Der Bundesrat wurde zwar nicht müde zu betonen, dass die Neutralität davon nicht betroffen sei, Teile des Parlaments sahen dies jedoch anders. Die Ausrichtung des Sanktionswesens und ihre Auswirkungen auf die Neutralität sowie auf die «Guten Dienste» lieferten Stoff für ausführliche Debatten, die unter anderem in einem aktualisierten Neutralitätsbericht des Bundesrats oder in die Lancierung einer Neutralitätsinitiative durch die AUNS-Nachfolgerin «Pro Schweiz» mündeten.
Unmittelbare Folge des Kriegs war die Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine; bis Ende Jahr wurden rund 70'000 Personen aufgenommen. Im März wurde zum ersten Mal der Schutzstatus S aktiviert, der Flüchtenden aus der Ukraine ein Aufenthaltsrecht gewährt, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen. Zu Diskussionen führten diesbezüglich nicht nur die Ungleichbehandlung der Flüchtenden aus verschiedenen Staaten, sondern auch die Verteilung der Asylsuchenden auf die Kantone.
Der Krieg hatte zudem mittelbare innenpolitische Folgen. So entschied das Parlament kurz nach Kriegsausbruch, das Militärbudget bis 2030 auf 1 Prozent des BIP – zu erhöhen. 2019 lag dieser Anteil bei 0.67 Prozent. Der Angriff habe die Wichtigkeit der militärischen Verteidigung aufgezeigt, wurde argumentiert. Strittig war, was mit dem zusätzlichen Geld genau geschehen soll, zumal der heftig diskutierte, im Sommer trotz anstehender Volksinitiative beschlossene Kauf der F-35A-Kampfflugzeuge bereits vorher budgetiert worden war.
Nicht nur der militärischen Sicherheit der Schweiz wurde nach Kriegsausbruch mehr Aufmerksamkeit geschenkt, sondern auch der Versorgungssicherheit im Landwirtschaftsbereich. So löste der tiefe Selbstversorgungsgrad der Schweiz und die drohenden Ausfälle an Lieferungen aus den grossen Agrarexportländern Ukraine und Russland gar Diskussionen um die Notwendigkeit einer zweiten Anbauschlacht, sozusagen eines neuen «Plan Wahlen», aus. Das Parlament beschäftigte sich im Jahr 2022 denn auch mit keinem Thema mehr als mit der Landwirtschaft, wie in Abbildung 2 der APS-Analyse 2022 der Parlamentsgeschäfte und Zeitungen ersichtlich ist.
Auswirkungen hatte der Ukraine-Krieg auch auf die SNB, welche im Jahr 2022 insbesondere aufgrund ihrer Fremdwährungsbestände mit rund CHF 150 Mrd. Verlust rechnete. Dies wird auch Folgen für die Finanzen von Bund, Kantonen und Gemeinden haben, da die SNB in diesem Jahr keine Ausschüttungen wird vornehmen können.
Schliesslich stellten der Ukraine-Krieg und die hohen Zahlen an Flüchtenden auch die Schulen vor grosse Probleme. Zusätzlich zum sonst bereits akuten Lehrerinnen- und Lehrermangel stellten und stellen die zahlreichen ukrainischen Kinder, die in den seltensten Fällen eine Landessprache beherrschen, eine Herausforderung für den Schulunterricht dar.
Drohende Krise im Energiebereich
Als direkte Folge des Ukraine-Krieges verstärkte sich zudem die Versorgungsproblematik im Energiebereich. Im Laufe des Jahres stiegen die Preise für Energie an und Ende August wurde bekannt, dass die Strompreise für Haushalte im Jahr 2023 gar um durchschnittlich 27 Prozent zulegen werden. Als Gründe für die starke Tariferhöhung nannte der Bundesrat unter anderem die Preisanstiege im Grosshandelsmarkt , die vor allem von den aufgrund des Krieges und der Sanktionen steigenden Gaspreisen getrieben wurden. In der Folge bereitete sich die Regierung auf eine Gasmangellage vor. Einerseits half sie beim europäischen Aufbau von Gasreserven mit, andererseits erliess sie eine Verordnung, gemäss der mit Gas beheizte Gebäude bei einer akuten Gasmangellage nur noch bis 20 Grad beheizt werden dürfen. Dies führte auch zu Kritik aus der Bevölkerung: Einige Stimmen äusserten gar die Befürchtung, dass es zu einer «Temperaturkontrolle» in Privathäusern kommen könnte.
Als Reaktion auf die Energieknappheit wollte der Bundesrat in erster Linie auf erneuerbare Energien setzen – er liess unter anderem temporär die Produktion der Wasserkraftwerke erhöhen und wollte das Genehmigungsverfahren für grosse Wasser- und Windkraftanlagen vereinfachen lassen. Trotz möglicher Knappheit setzte er für den Notfall aber trotzdem auch auf Gaskraft und liess ein Reservegaskraftwerk bauen, das im Februar 2023 in Betrieb gehen soll. Zudem wurden Stimmen laut, die verstärkt wieder auf Atomkraft setzen wollten – ein Initiativkomitee um die FDP lancierte gar eine Initiative, mit der es «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» forderte. Mit einer landesweiten Kampagne wollte die Regierung überdies die Bevölkerung dafür sensibilisieren, mit der knappen Energie sparsam umzugehen.
Vor- und Nachteile brachte die Energiekrise für den Klima- und Umweltschutz mit sich: Einerseits verhalf sie womöglich dem indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative zu einer Mehrheit, da dieser auch auf eine Reduktion fossiler Brennstoffe abzielte. Gleichzeitig verabschiedete das Parlament dringliche Massnahmen zur kurzfristigen Bereitstellung einer sicheren Stromversorgung im Winter – was aber in Natur- und Umweltschutzkreisen durchaus auch auf Kritik stiess.
Den für die Bevölkerung spürbarsten Effekt hatte die Energiekrise in Form von Preisanstiegen bei Energieträgern. So wuchsen die Treibstoffkosten im Jahr 2022 stark an und sorgten damit für einen allgemeinen Anstieg der Teuerung sowie der Hypothekarzinsen. Dies führte zu breiten Forderungen nach Unterstützung für die Bevölkerung – etwa durch eine Senkung der Mineralölsteuer, Massnahmen bei den Krankenkassenprämien oder eine Abschaffung des Eigenmietwerts für Rentnerinnen und Rentner – der Eigenmietwert selbst blieb trotz langjähriger Diskussionen auch im Jahr 2022 unangetastet. Das Parlament widmete den entsprechenden Vorstössen eine ausserordentliche Session, nahm dabei aber einzig den vollständigen Teuerungsausgleich für die AHV-Renten an. Zudem forderten die Gewerkschaften eine Erhöhung der Löhne, so dass diese mit der Teuerung schritthalten können. Auch die SNB reagierte und erhöhte in der Folge mehrfach den Leitzins, um die Teuerung zu bekämpfen.
Über die Krisen hinaus
Auch in der Gesellschaft machten im Jahr 2022 die Sorgen vor den Auswirkungen der Pandemie den Sorgen aufgrund des Kriegs in der Ukraine und der Energieknappheit Platz. Die Versorgungssicherheit war im Jahr 2022 ein zentrales Schlagwort – gefährdet sah man sie etwa im medizinisch, wirtschaftlichen, Energie- sowie im Landwirtschaftsbereich. Im Sorgenbarometer nahm sie denn auch den ersten Platz ein.
Das politische Jahr 2022 stand aber natürlich nicht bloss im Zeichen dieser drei Krisen, auch die Umwelt und die Renten wurden von den im Rahmen des Sorgenbarometers Befragten als wichtige Probleme genannt. Zwar verlor die Klimakrise in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr etwas an Aufmerksamkeit, jedoch wurde insbesondere am indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative gearbeitet. Abgestimmt wurde über die AHV-Reform, bei der laut Nachbefragungen eine zustimmende Mehrheit der Männer eine ablehnende Mehrheit der Frauen überstimmte und – unter anderem – das Frauenrentenalter auf 65 Jahre erhöhte.
Daneben bewegte die Revision des Sexualstrafrechts – «Nein heisst Nein» vs. «Nur Ja heisst ja» – die Gemüter. Auch die Bundesratsersatzwahlen entflammten vor allem mediale Diskussionen, die gar den im Vergleich zu den Vorjahren eigentlich abflauenden Stadt-Land-Graben wieder zum Kochen brachten. Für rote Köpfe sorgten 2022 etwa auch die Ausgestaltung der Beziehungen zur EU, der Entscheid der NAGRA für den Standort von Atomabfällen im Gebiet «Nördlich Lägern» oder der Umgang mit dem Wolf. Aber auch die direkte Demokratie sorgte wie üblich für Gesprächsstoff: Insbesondere die Ablehnung der beiden Steuervorlagen, das «Nein» zum Medienpaket und die Annahme der Änderung des Filmgesetzes sorgten für Freude auf der einen und Stirnrunzeln auf der anderen Seite, während die Annahme der Initiative für «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» – das 25. erfolgreiche nationale Volksbegehren in der Geschichte der Schweiz – nächstes Jahr für heisse Diskussionen bei der Umsetzung sorgen wird.
Was erwartet uns 2023?
Ein Hinweis zur Beantwortung dieser Frage könnten die mehr als 850 im Jahr 2022 neu vorgelegten Bundesratsgeschäfte oder neu eingereichten parlamentarischen Vorstösse bieten: Geht es nach ihnen, stünden im nächsten Jahr die Themen «Verkehr» und «Soziale Gruppen» im Mittelpunkt des Geschehens, wie Abbildung 3 der APS-Analyse 2022 der Parlamentsgeschäfte und Zeitungen verdeutlicht. Weiterhin sehr zentral scheint das Thema «Energie» zu bleiben, zu dem verglichen mit dem Vorjahr noch einmal mehr als doppelt so viele Vorstösse lanciert wurden.
Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben 2022 in zahlreichen parlamentarischen Debatten als Argumentationsbasis gedient, auf der manche Vorstösse auf deutlich weniger Gegenwehr stiessen, als dies im «Normalbetrieb» zu erwarten gewesen wäre. Es bleibt abzuwarten, ob dies auch 2023 so bleiben wird. Womöglich werden – wie die Reformvorschläge für Regierung und Parlament in der Covid-19-Krise gezeigt haben – die Geschäfte, die noch während der Krise vorgelegt wurden, beim Fehlen einer akuten Gefahr nicht mehr so heiss gegessen werden, wie sie gekocht wurden.