APS-Jahresrückblick 2023
Autorinnen und Autoren: Anja Heidelberger, Marlène Gerber, Guillaume Zumofen und Marc Bühlmann
Was war im Jahr 2023 wichtig in der Schweizer Politik?
Die Antwort auf diese Frage fällt je nach Standpunkt unterschiedlich aus. Zwei Akteure, welche die «Wichtigkeit» von Politik mitbestimmen, sind das Parlament und die Medien: Beide haben Einfluss auf die politische Agenda, geben also bis zu einem gewissen Grad vor, worüber die politische Schweiz diskutiert, berät und entscheidet. Dabei verfolgen sie unterschiedliche Logiken: Die Medien setzen eher auf kurzfristige Ereignisse und heben in einem bestimmten Moment Aussergewöhnliches hervor («Medienlogik»). Das Parlament hingegen besitzt einen weitreichenderen Blickwinkel: Zwar nimmt es einerseits auch medial hervorgehobene Aktualitäten auf, indem es diese in parlamentarische Vorstösse einfliessen lässt («Vorstosslogik»), diese erhalten im Parlament durch die zeitverzögerte Beratung hingegen erst zu einem späteren Zeitpunkt Aufmerksamkeit. Grosse Reformgeschäfte haben einen noch längeren Zeithorizont: Sie werden häufig über Jahre hinweg aufgegleist und beraten, um kompromissfähige Vorlagen zu schmieden. Die Wichtigkeit, die solchen Gesetzgebungsprojekten zugemessen wird, definiert sich somit kaum über die unmittelbare politische Aktualität, sondern eher über die Tragweite der Gesetzesreformen («Geschäftslogik»). Im Versuch, so breit wie möglich zu definieren, was 2023 in der Schweizer Politik wichtig war, stützen wir uns auf diese drei Logiken.
«Medienlogik»: Über welche Ereignisse berichteten die Medien 2023 besonders intensiv?
(vgl. Informationen zur Messung im technischen Anhang)
Das wichtigste Ereignis gemäss Medienlogik waren 2023 die eidgenössischen Wahlen. Diese erhielten nicht nur im Wahlmonat Oktober, sondern bereits Monate zuvor vergleichsweise hohe mediale Aufmerksamkeit (vgl. Tabelle 1 der APS-Analyse der Parlamentsgeschäfte und Zeitungen im Anhang). So berichteten die Printmedien ausführlich über die kantonalen Ausgangslagen, die Strategien und Wahlkampfthemen der Parteien und Verbände, über den Wahlausgang, der insbesondere Sitzgewinne für die SVP und Sitzverluste für die Grünen und Grünliberalen mit sich brachte, und schliesslich über dessen Folgen für die Bundesratswahlen 2023.
Ähnlich intensiv, aber zeitlich stärker begrenzt war die Berichterstattung über den Untergang der Credit Suisse: Nach 167 Jahren musste die Grossbank 2023 trotz Hilfe der SNB unter Unterstützung des Bundes an die UBS verkauft werden. Gleichzeitig sorgte das Ereignis für grosse Diskussionen über die Too-big-to-fail-Regulierungen, über die Einsetzung der fünften PUK in der Geschichte der modernen Schweiz, über hohe Verpflichtungskredite des Bundes sowie über den Imageverlust der Schweiz im Ausland.
Wie stets war auch die direkte Demokratie Treiberin überdurchschnittlicher medialer Aufmerksamkeit, wobei sich Letztere mangels Alternativen lediglich auf die drei Vorlagen am einen Abstimmungssonntag im Juni 2023 konzentrierte: Dabei wurden die OECD/G20-Minderstbesteuerung und das Klima- und Innovationsgesetz ausführlich beleuchtet; beide Vorlagen fanden in der Stimmbürgerschaft eine Mehrheit. Im Vergleich zu vor zwei respektive drei Jahren fast keine mediale Aufmerksamkeit mehr erhielt hingegen eine weitere Revision des Covid-Gesetzes, die von der Stimmbevölkerung angenommen wurde.
Ausserordentlich viel Aufmerksamkeit liessen die Medien überdies dem im September erschienenen Bericht über sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche sowie im Juli dem Hackerangriff auf die IT-Firma Xplain zukommen, der auch im Zusammenhang mit der Cybersicherheit diskutiert wurde.
Im Unterschied zur Medienberichterstattung im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen von 2015 und 2019, in denen die Kampagnenthemen «Migration» bzw. «Klima» stark betont worden waren, gab es 2023 kein Thema, das von den Medien doppelt so intensiv aufgegriffen wurde wie im Vorjahr (vgl. Heidelberger und Bühlmann 2023).
«Vorstosslogik»: Welche Themen erhielten durch die Nutzung von parlamentarischen Instrumenten 2023 besonders viel Aufmerksamkeit im Parlament?
(vgl. Informationen zur Messung im technischen Anhang)
Die vom Parlament 2023 behandelten Vorstösse und parlamentarischen Initiativen hatten 2023 besonders häufig die «sozialen Gruppen» zum Thema, wobei Gleichstellungsfragen, die unter anderem auf Vorstösse aus der Frauensession 2021 zurückgingen, und Asylfragen, die durch den Anstieg der Anzahl Asyl- und Schutzsuchender, aber nicht zuletzt auch aufgrund der umstrittenen Aufgabenteilung zwischen den unterschiedlichen föderalen Ebenen im Mittelpunkt standen (vgl. Abbildung 1 der APS-Analyse der Parlamentsgeschäfte und Zeitungen).
Für ebenfalls zahlreiche behandelte Vorstösse sorgten die Gesundheitskosten, allen voran die Krankenkassenprämien sowie mögliche Sparbemühungen im Gesundheitsbereich. Entsprechende Vorstösse waren schon in den Jahren zuvor zahlreich eingereicht worden, das Thema erhielt aber aufgrund der erneuten Prämienerhöhung 2023 noch parlamentarischen Schub. In Vorstössen breit diskutiert wurden schliesslich auch aussenpolitische Fragen zur Ukraine und zu Waffenexporten. Auch in der Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik debattierte das Parlament 2023 vergleichsweise zahlreiche in Vorstössen und parlamentarischen Initiativen aufgebrachte Problemlösungsvorschläge.
«Geschäftslogik»: Mit welchen grösseren Reformprojekten beschäftigte sich das Parlament 2023?
(vgl. Informationen zur Messung im technischen Anhang)
Die während der 51. Legislatur eingetretenen Krisen (vgl. die Jahresrückblicke 2021 und 2022) hallten im Jahr 2023 unter der Bundeshauskuppel nach. Gemessen an der Zahl gesprochener Wörter beschäftigte sich das Parlament 2023 mit Abstand am längsten mit dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien (vgl. Tabelle 2 der APS-Analyse der Parlamentsgeschäfte und Zeitungen) und führte dabei unter anderem Diskussionen über die Stromknappheit, den Ausbau der alternativen Energien und über die Zukunft der Atomkraft weiter, die bereits im Vorjahr und in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg virulent diskutiert worden waren. Auch die Armeebotschaft 2023 sorgte im Lichte des Ukraine-Kriegs für wortreiche Debatten. Unter anderem führte der in diesem Rahmen beschlossene Export von Leopard-2-Panzern nach Deutschland zu Diskussionen rund um die Vereinbarkeit mit der Schweizer Neutralität. Viel zu diskutieren gaben im Parlament zudem zwei Geschäfte im Zusammenhang mit den öffentlichen Finanzen: Einerseits beriet das Parlament ausserordentlich wortreich über den Nachtrag I zum Voranschlag 2023, bei dem insbesondere die Verpflichtungskredite zur Übernahme der CS durch die UBS umstritten waren. Andererseits widmete es dem Budget 2024 viel Redezeit, wobei die Sparbemühungen für die kommenden Jahre zentrales Thema waren.
Das Parlament beschäftigte sich aber auch intensiv mit Vorlagen ohne expliziten Krisenbezug: Mit dem «Ausbauschritt 2023 der Nationalstrassen» inklusive dem «Zahlungsrahmen Nationalstrassen 2024-2027» sowie der BVG-Reform verabschiedeten die beiden Räte 2023 zwei hitzig debattierte Geschäfte, gegen die im Anschluss jeweils ein Referendum angestrebt wurde. Hingegen scheint zur im Parlament seit mehreren Jahren intensiv diskutierten und im Berichtsjahr verabschiedeten zweiten Teilrevision des Raumplanungsgesetzes bislang kein Referendum in Sicht.
Als weitere Gesetzesreformen, die das Parlament über einige Jahre intensiv beschäftigt hatten, kamen im Berichtsjahr auch die Agrarpolitik 22+ und mit Beschluss der erweiterten Widerspruchslösung auch die Strafrahmenharmonisierung zum Abschluss. In der Wintersession wurde schliesslich das Grossprojekt für eine einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Gesundheitskosten (EFAS) nach beinahe 15-jähriger Verhandlungszeit verabschiedet.
Im Vergleich zu den Vorjahren unter dem Radar und durch die drei Logiken kaum erfassbar
Medienlogik, Vorstosslogik und Geschäftslogik bestimmen die Wichtigkeit aufgrund sichtbarer beziehungsweise sichtbar gemachter Ereignisse und Debatten. In der konkordanzorientierten Schweizer Politik werden freilich zahlreiche wichtige Entscheidungen gefällt – etwa durch den Bundesrat –, die von unseren drei Indikatoren zur Messung der Wichtigkeit politischer Themen und Ereignisse eher nicht erfasst werden.
Ein Thema, das 2023 lange eher im Hintergrund blieb, waren die Beziehungen zur EU, wo der Bundesrat im Dezember ein neues Verhandlungsmandats vorlegte. In Zukunft dürften deshalb nicht nur die Bilateralen III, sondern auch das Thema Personenfreizügigkeit, die Frage des Fachkräftemangels oder die Forschungszusammenarbeit mit der EU wieder vermehrt auf der politischen Agenda zu finden sein. Dasselbe gilt auch für die Medienpolitik: Die 2023 zustandegekommene «SRG-Initiative (200 Franken sind genug)» wird im kommenden Jahr mit ziemlicher Sicherheit genauso in unseren Indikatoren für Medien- und Geschäftslogik auftauchen wie die zahlreichen zur Abstimmung anstehenden Volksbegehren bei den Sozialversicherungen.
Schliesslich beschäftigte sich die Politik 2023 auch mit der Versorgungssicherheit respektive -knappheit, die sich im Gesundheitsbereich – etwa bezüglich eines Mangels an Medikamenten sowie Ärztinnen und Ärzten –, bei der Lebensmittelsicherheit, im Wirtschaftsbereich sowie noch immer im Energiebereich zeigte. Mit einer Teilrevision des Landesversorgungsgesetzes sowie einer Erhöhung der Garantien für Pflichtlagerdarlehen sollen die Probleme angegangen werden.
In den verschiedenen thematischen APS-Jahresrückblicken finden sich zahlreiche weitere wichtige politische Ereignisse. Leitend für die Entscheidung, was 2023 wichtig war oder nicht, war in diesen verschiedenen Kapiteln die Expertise der APS-Reaktorinnen und Redaktoren.